Kritik Kurzgeschichten: Die Jupitermonde, von Alice Munro (1982, engl. The Moons of Jupiter) – 7/10

Viele der 11 Geschichten erschienen zuerst in Zeitschriften wie dem New Yorker und wurden für die Buchausgabe bearbeitet – so hat beispielsweise die Zeitschriftenversion von Dulse eine Ich-Erzählerin, die dann zwischen Buchdeckeln in die dritte Person mutiert. Ich kenne nur die Buchfassungen und habe die Geschichten “Jupitermonde”, “Bardon Bus” sowie “Mrs Cross and Mrs Kidd” nicht gelesen.

Wiederkehrendes:

Schwache Frauen leiden immer wieder unter herzlosen, unachtsamen, narzisstischen Männern (einmal beschrieben als “cold-hearted, superficial, stubborn, emotionally stingy, loyal, honest, high-minded, and vulnerable”); einige  Betroffene schaffen den Absprung.

Außerdem wiederkehrend:

  • verborgene männliche Homosexualität
  • überraschende, scheinbar anlasslose Tränen
  • ärmliche Kindheit in der kanadischen Provinz in den 1940ern
  • relativ intellektuelle weibliche Hauptfigur, ob 14, 34 oder 44
  • unverheiratete ältere Frauen (“plenty of old maids in my family”)
  • alleinstehende Frauen mit verheirateten Männern, die sie plötzlich heiraten wollen und keine Gegenwehr erwarten
  • unaufdringlich perfekt passende Formulierungen – es überrascht nicht, dass die akribisch formulierende Autorin ihre Texte zwischen Zeitschriften- und Buchveröffentlichung noch einmal überarbeitet
  • brilliante, jedoch nie sehr lange Dialoge voller Missverständnisse und Aneinandervorbeireden

Die Chaddeleys und die Flemings – 1. Verbindungen – 7/10

Ein Familientreffen mit vier unverheirateten Cousinen oder Geschwistern auf dem Dorf in Kanada in den 1940ern. Zunächst amüsiert man sich bestens. Später gräbt die Ich-Erzählerin tief im transatlantischen Stammbaum der Familie und erzählt von ihrem Ehemann, der ihre ärmlich ländliche Herkunft verachtet; genau aus dieser Sippe sagt sich Besuch an, die Ich-Erzählerin ist in Sorge. Wie so oft bei Munro erzählt aus Kinderperspektive, als Rückblick einer Erwachsenen.

Sehr lebendige, stimmige Familienszenen aus den 1940ern, momentweise sogar lustig. Dass sich die Gäste noch Jahrzehnte später daran erinnern, versteht man, auch wenn nichts Sensationelles passiert, aber die gehobene Stimmung transportiert Munro gut. Dazu Zeitkolorit und Details, die man am besten versteht, wenn man die Unterschiede zwischen Land und Stadt, zwischen USA und Kanada in den 1940ern kennt.

Auf ihre typische Art verbaut Alice Monroe mehrere Zeitebenen und auch eine gewisse Rätselhaftigkeit, die ihren Geschichten das gewisse Je ne sais quoi gibt. Schwer verständlich, warum der schnöselige Gatterich der Ich-Erzählerin überhaupt eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen heiratet, wenn er das Milieu so verachtet, und warum sie sich auf diese Ehe einließ. (Ein weiterer kalter, demütigender Partner mit einer unterwürfigen Partnerin erscheint in der Geschichte Dulse, und auch er bleibt nicht der letzte.)

Die Chaddeleys und die Flemings – 2. Der Stein auf dem Feld

Die Ich-Erzählerin aus der vorherigen Geschichte kehrt wieder und berichtet abermals von alleinstehenden Tanten, diesmal auf der väterlichen Seite – wunderlich isoliert lebend, nicht so lebenslustig wie die Geschwister ihrer Mutter aus Text 1.

Leichtfüßig springt Alice Munro zwischen Themen und Zeiten, aber es klingt stets eingängig.

Dulse – 7/10

Alleinstehende Frau interagiert in Pension mit unterschiedlichen Solomännern. Denkt zwischenzeitlich zurück an die gescheiterte letzte Beziehung.

Selbstverständlich mischt Munro unterschiedliche Orte und Zeiten, ohne dass es sonderlich stört; und selbstverständlich ist das Ende vage. Gut der immer neu scheiternde Dialog mit dem Psychologen.

Wie in der ersten Geschichte ein herzloser, herrschsüchtiger Partner, dem sich die Ich-Erzählerin zeitweise unterordnet. Wie immer auch punktgenaue, stimmige Formulierungen. Ein Beispiel: ein selbstgefälliger Angeber “luxuriated in the telling”. Noch eins:

Never mind what they’d said; never mind.

Erschien zuerst in anderer Form im New Yorker 1980.

Die Putensaison – 7,5

Ein vertrautes Munro-Szenario: die Erinnerungen einer Erwachsenen an ihre ärmliche Kindheit in ländlicher Umgebung, diesmal bei der Truthahnverarbeitung. Ungewöhnlich nur, dass Munro diesmal nicht in die Jetztzeit der erwachsenen Ich-Erzählerin blendet. Hochrealistisch, plastische Figuren, undramatisch und doch spannend und konfliktreich.

In anderen Geschichten leiden die zentralen Frauen unter herzlosen, selbstbesessenen Männern. In der Truthahnfabrik jedoch schmachten sie das Gegenstück an – einen sanften, mutmaßlich homosexuellen Obertruthahnausnehmer.

Meine Lieblingsvokabeln hier: gimpy, hangdog. Die Personen sind nicht ganz leicht auseinanderzuhalten, zumal Alice Munro einen Morgan und einen Morgy, einen Henry und einen Herb kredenzt.

Zuerst erschienen 1980 im New Yorker, aber wie gesagt, ich kenne nur die Buchfassung, die vermutlich etwas abweicht.

Unfall – 7,0

Junglehrerin hat Affäre mit verheiratetem Kollegen, Vater von drei Kindern, und das in einer Kleinstadt in den 1940ern. Der ganze Ort redet schon darüber. Ein tragischer Unfall in der Familie ändert alles.

Die Geschichte ist relativ spannend und wechselt sehr spät erstmals die Zeitebene – aus diesen beiden Gründen wirkt sie übersichtlicher, aber fast auch seichter als die anderen Texte. Die Affäre und ihre Details klingen weniger realistisch, sorgen aber für Dramatik. Munro schildert die  handlungsentscheidende Nebenfigur Kartrud  zu aufdringlich als dominant. Insgesamt klingt die Geschichte weniger abgeklärt.

Prue – 5/10

Unverheiratete Frau ist manchmal mit einem Mann zusammen, der manchmal verheiratet ist. Sie besucht ihn zum Abendessen, und an der Tür schmeißt ihm eine andere Frau etwas ins Gesicht. Am nächsten Morgen stibitzt sie einen seiner Manschettenknöpfe.

Ich weiß nicht genau, was diese sehr kurze Geschichte soll. Der klügere New Yorker wusste es und druckte sie 1981.

Labor Day Dinner – 7,5

George und Roberta ließen ihre Ex-Partner hinter sich und leben gemeinsam auf einem Einödhof, sind jedoch bereits voneinander enttäuscht. Robertas Töchter kommen über den Sommer und entsprechen auch nicht  Georges Erwartungen; alle vier besuchen ein Paar auf einem anderen Einödhof.

Meisterlich arrangiert Alice Munro die durcheinanderlaufenden Gespräche auf dieser kleinen Party. Die Kinder und jungen Erwachsenen sprechen indes weitaus zu smart – unterhaltsam, aber nicht realistisch.  Irritierend auch, wenn man Munro gewöhnt ist, die wechselnde Erzählperspektive.

Und schon wieder ein herzloser Mann (“your armpits are flabby”) und eine Frau, die sich  anpassen möchte (Creme ins Gesicht, Ärmel über die Arme). Erschienen 1981 im New Yorker.

  • Assoziation: Kinder besuchen in den Ferien ihre Mutter, die mit neuem Mann in der Einöde lebt und Beziehungen zum nächsten Einödhof unterhält – das erinnert an die Geschichte Stinkreich aus dem Munro-Band Der Traum meiner Mutter.

Leidensgeschichten – 6,5/10

Drei Mittelalte auf einer Autofahrt erzählen sich selt- und unterhaltsame Geschichten von Liebe und Untreue.

Das klingt teilweise nach Klatsch und Tratsch, und die Rahmenhandlung spielt keine große Rolle, selbst wenn Alice Munro in den wenigen Absätzen Rahmenhandlung noch die Zeitebene wechselt und standesgemäß ein rätselhaftes Ende kredenzt. Ich fühlte mich einigermaßen gut unterhalten. Angeblich hat sie die Kurzgeschichte aus Überresten einer anderen Geschichte zusammengebaut (Quelle).

Besucher – 7,5/10

Älteres Ehepaar bekommt mehrtägigen Besuch von drei gleichaltrigen Verwandten. Die angestrengte Jovialität der Gastgeber stößt auf trübtassige Fastnichtreaktion. Und die räumlichen Verhältnisse sind beengt.

Die komische Seite hier ist stärker als in den anderen Geschichten, bei dem Namen Blanche Black ging Munro schon zu weit. Die verkrampfte, teils verzweifelte Interaktion spießt Munro unterhaltsam auf. Schon zu Beginn der Geschichte fühlt man sich unbehaglich und fragt bang, wie weit es die Autorin noch treiben wird. Erschien 1982 im Atlantic.

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