Romankritik: Euphoria, von Lily King (2014) – 8/10

Lily King studierte literarisches Schreiben und wendet das Erlernte souverän an:

  • die Autorin steigt unmittelbar in die Handlung ein, erzeugt sofort Spannung und Unbehagen – nicht nur wegen der schwülen tropischen Bedingungen, sondern auch wegen der  Spannungen zwischen den Akteuren
  • sie produziert kurze Kapitel mit vielen Atempausen, knackigen Dialogen und dramatischem Finale
  • sie wechselt zwischen Ich-Erzähler, Briefen und Tagebucheinträgen und zeigt so die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven
  • sie lässt Dinge zunächst unerklärt, die in späteren Kapiteln und anderen Zusammenhängen aufgeklärt werden – nichts bleibt letztlich offen
  • reizvolle Querbezüge zwischen weit auseinander liegenden Kapiteln und Regionen

Der Roman verwendet meine Lieblingszutaten – Liebe, Konflikt, Interkulturelles und heiße Länder. Dazu ein bisschen wokes Crossdressing und Frauen-Empowerment (nicht meine Lieblingszutaten). Gelegentlich erklärt Lily King etwas zu deutlich, zu didaktisch. Manchmal will sie mit kleinen Schocks beeindrucken, mit Rumpelsex oder Ritualmorden.

Für mich liefert Euphoria feinstes Kunsthandwerk. Ich kann es nicht genau begründen, aber “Kunst” ist es für mich nicht, anders als sagen wir hot country reading von Graham Greene, V.S. Naipaul, Ernest Hemingway oder begrenzt Paul Theroux; vielleicht bin ich frauenfeindlich. (Die meisten deutschen Autoren sind für mich weder Kunst noch Kunsthandwerk, sondern Schmarrn.)

Hier kommt der Romantitel zuerst zur Sprache:

It’s that moment about two months in, when you think you’ve finally got a handle on the place. Suddenly it feels within your grasp. It’s a delusion – you’ve only been there eight weeks – and it’s followed by the complete despair of ever understanding anything. But at that moment the place feels entirely yours. It’s the briefest, purest euphoria.”

Und später, nach einer Niederschrift:

I thought of Nell’s euphoria and nearly laughed out loud. This little rush of words was the closest I’d come to any sort of elation in the field.

Die Euphoria begegnet danach noch öfter. Lily King hat sich ein tolles Thema ausgesucht. Der Roman weckte mein Interesse für Margaret Mead, ihre Männer und Frauen, und für die Völker Papua-Neuguinea, mehr als für andere Romane von Lily King.

Der Roman schreit nach einer Verfilmung – Kulissen, Dialoge, Konflikte, Drama, Spannung, Herzschlagfinale, alles ist da. Mai 2025 waren offenbar die Rechte verkauft, aber sonst kam nichts in Gang.

Lektüre zu dritt:

Verblüffend: eine der spannendsten Szenen ist die Lektüre zu dritt; ein anthropologisches Manuskript von Helen (irl Ruth Benedict) wird leidenschaftlich diskutiert und annotiert. Anthropologische Denkschulen treten hier ebenso hervor wie Rivalitäten unter publizierenden und verliebten Wissenschaftlern. Die Hauptfigur Bankson (irl Gregory Bateson) kommentiert: 

We’d had some sort of sex, sex of the mind, sex of ideas, sex of words, hundreds of thousands of words.

Mein Lieblingssatz: 

’People are always wine to me, never bred.’

Lilly King schreibt nüchtern, frei von Geschwafel und anderen Fremdschämgeneratoren. Gelegentlich verwendet sie seltene Wörter, die wohl mit den Branchen und mit der Epoche zusammenhängen, wie

calaboose, sheepdipping, marsupial, fen, weevil, scarification, striation

Assoziation:

Persönlich vom Rezessenten:

Wie immer hat mich die fiktionalisierte Biografie nervös gemacht, weil die Autorin nicht persönlich in der geschilderten Region war und vor allem, weil ich die Unterschiede zum wahren Leben nicht einschätzen konnte. Hier besonders schlimm, weil ich nicht zuerst eine richtige Biografie von Margaret Mead las (ich las erst später die Mead-Biografie von Jane Howard, die auch Lily King zu ihrem Roman inspirierte).

Ich habe darum ChatGPT und Google Gemini mit 2 Fragen belagert:

  1. Unterschiede zwischen Romanfigur und historischer Figur
  2. Unterschiede zwischen Romanhandlung und historischer Handlung

Klar wurde: Lily King schrieb keine fiktionalisierte Biografie, sondern einen Roman nach einigen Motiven aus dem Leben von Margaret Mead und ihren Wegbegleitern – mit wesentlichen Unterschieden zum richtigen Leben vor allem im letzten Romanviertel. Darum verwendet King auch nicht die tatsächlichen Namen der Vorbilder (das tat sie beim Schreiben nur anfänglich, wie sie dem Deutschlandfunk erzählte). Das ist ein Gegensatz zu anderen fiktionalisierten Biografien, die sich fast wie tatsächliche Biografien lesen und die echten Namen verwenden.

Hier die Antworten der KI, zuerst Gemini:

Name a. Roman Echter Name Geburtsjahr, Todesjahr und Kurzbiografie – von Google Gemini
Nell Stone Marg. Mead 1901-1978. Margaret Mead war eine bahnbrechende amerikanische Kulturanthropologin und eine der bekanntesten Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit. Sie wurde berühmt für ihre Feldforschung in der Südsee, insbesondere ihre Studien über Geschlechterrollen, Sexualität und die Sozialisation von Jugendlichen in Samoa und Neuguinea. Ihre Arbeiten trugen maßgeblich dazu bei, das Verständnis für die Rolle von Kultur bei der Formung menschlichen Verhaltens zu erweitiefen und brachen mit vielen damaligen westlichen Annahmen. Mead war auch eine öffentliche Intellektuelle, die sich zu einer Vielzahl von sozialen Themen äußerte.
Fenwick Lowell Reo Fortune 1903-1979. Reo Fortune war ein neuseeländischer Anthropologe, der vor allem für seine Feldforschung in Neuguinea bekannt ist. Er war der zweite Ehemann von Margaret Mead und führte mit ihr und später mit Gregory Bateson gemeinsame Studien durch. Seine Arbeiten konzentrierten sich oft auf soziale Organisation, Verwandtschaftssysteme und das Geschlechterverhältnis in den von ihm untersuchten Kulturen. Trotz seiner wichtigen Beiträge stand er im Schatten seiner berühmteren Kollegen, doch seine Detailtreue in der ethnographischen Forschung ist weiterhin bemerkenswert.
Andrew Bankson Gregory Bateson 1904-1980. Gregory Bateson war ein außergewöhnlich vielseitiger britischer Anthropologe, Sozialwissenschaftler, Linguist, Kybernetiker und Systemtheoretiker. Seine Arbeit umfasste ein breites Spektrum von Disziplinen, von der Ethnologie bis zur Kommunikationstheorie und Psychotherapie. Er traf Margaret Mead während ihrer Feldforschung in Neuguinea und heiratete sie später. Batesons interdisziplinärer Ansatz und seine Fähigkeit, Verbindungen zwischen scheinbar disparaten Feldern herzustellen, machten ihn zu einem der originellsten Denker des 20. Jahrhunderts, dessen Einfluss weit über die Anthropologie hinausreicht.

Jetzt Chat GPT:

Nell Stone Marg. Mead 1901–1978. Margaret Mead war eine US-amerikanische Kulturanthropologin. Berühmt wurde sie durch ihre Feldforschungen in Samoa und Neuguinea sowie durch ihre Arbeiten zur Geschlechterrolle in verschiedenen Kulturen. Sie war eine populärwissenschaftliche Autorin, die gesellschaftliche Debatten prägte. Ihr Werk war stilbildend für eine ganze Generation von Anthropologen.
Fen Reo Fortune 1903–1979. Reo Fortune war ein neuseeländischer Anthropologe und der zweite Ehemann von Margaret Mead. Er forschte gemeinsam mit Mead in Neuguinea, wobei es zu Spannungen kam, sowohl persönlich als auch wissenschaftlich. Seine Ansichten waren oft konservativer als die von Mead, was zu ihrer späteren Trennung beitrug.
Andrew Bankson Gregory Bateson 1904–1980. Gregory Bateson war ein britischer Anthropologe, Sozialwissenschaftler und später Meads dritter Ehemann. Er arbeitete ebenfalls in Neuguinea und war bekannt für seine interdisziplinären Ansätze, die Anthropologie, Kybernetik, Psychologie und Kommunikation verbanden. Seine Zusammenarbeit und Beziehung mit Mead hatte großen Einfluss auf beide.

Dichtung vs Wahrheit laut Gemini:

  • Im Roman: Ein zentrales Element von “Euphoria” ist die intensive und komplizierte Dreiecksbeziehung zwischen Nell Stone (Margaret Mead), Fenwick (Reo Fortune) und Bankson (Gregory Bateson). Die romantischen und sexuellen Spannungen, insbesondere die Affäre zwischen Nell und Bankson, stehen im Vordergrund.
  • Historisch: Während Margaret Mead tatsächlich im Verlauf ihrer Feldforschung in Neuguinea eine Beziehung mit Gregory Bateson begann und Reo Fortune verließ, wird die Darstellung im Roman als dramatisch überhöht und fiktionalisiert angesehen. Die reale Beziehung zwischen Mead und Bateson entwickelte sich über einen längeren Zeitraum und war nicht von derartiger Intensität und Unmittelbarkeit geprägt, wie es der Roman suggeriert. Auch die Figur des Reo Fortune wird im Roman deutlich negativer dargestellt, als es der historischen Realität entspricht.
Der Fokus auf den Selbstmord und die psychische Verfassung
  • Im Roman: Banksons (Gregory Bateson) anfängliche Isolation, seine Suizidgedanken und sein gescheiterter Selbstmordversuch prägen den Beginn des Romans und geben ihm eine dunkle Grundstimmung.
  • Historisch: Es gibt keine Belege dafür, dass Gregory Bateson zu Beginn dieser Expedition in einer solch tiefen psychischen Krise steckte oder einen Suizidversuch unternahm. Diese Elemente dienen im Roman dazu, Banksons Charakter zu formen und die Dramatik der Geschichte zu erhöhen.
Vereinfachung und Dramatisierung der ethnographischen Arbeit
  • Im Roman: Die Feldforschung selbst wird oft im Kontext der persönlichen Beziehungen und Konflikte der Anthropologen dargestellt. Bestimmte ethnographische Entdeckungen und methodische Ansätze werden zugunsten der Beziehungsdynamik vereinfacht oder dramatisiert.
  • Historisch: Margaret Meads Arbeit war komplex und methodisch fundiert. Die Darstellung der jeweiligen Kulturen und der Forschungsansätze im Roman ist stark auf die narrative Spannung zugeschnitten und verliert an ethnographischer Tiefe, die in Meads tatsächlichen Schriften zu finden ist.
Die Figuren als Archetypen
  • Im Roman: Die Charaktere sind oft Archetypen, die bestimmte Aspekte der realen Personen betonen und andere weglassen. Nell ist die geniale, aber auch impulsive Forscherin; Fenwick ist der eifersüchtige und frustrierte Ehemann; Bankson ist der sensible, intellektuelle Außenseiter.
  • Historisch: Während die Figuren Züge der realen Personen aufweisen, sind sie im Roman vereinfacht und für die Erzählung zugespitzt. Die Komplexität der Persönlichkeiten und ihre jeweiligen wissenschaftlichen Beiträge werden zugunsten der fiktionalen Handlung reduziert.

Unterschiede Roman-Leben lt. Chat GPT:

1. Fiktive Darstellung von Margaret Mead (Nell Stone)

Im Roman wird die Figur der Nell Stone als eine leidenschaftliche, emotional aufgeladene Anthropologin dargestellt, die in einem Dreiecksverhältnis mit Fen und Bankson steht. Diese Darstellung weicht von der realen Margaret Mead ab, die in ihren wissenschaftlichen Arbeiten und in der Öffentlichkeit als sachlich und professionell galt. Obwohl Mead in ihrem Leben mehrere Ehen hatte, ist die Darstellung eines solchen Dreiecksverhältnisses in dieser Form nicht historisch belegt. The Guardian

2. Darstellung von Reo Fortune (Fen)

Reo Fortune wird im Roman als unsicherer, neidischer und gewalttätiger Charakter dargestellt, der seine Frau Nell emotional missbraucht. Diese Darstellung entspricht nicht der realen Person, die als ernsthafter und respektierter Anthropologe bekannt war. Die Darstellung im Roman ist eine künstlerische Freiheit und weicht erheblich von der historischen Realität ab.

3. Darstellung von Gregory Bateson (Bankson)

Im Roman wird Bankson als ein Mann mit psychischen Problemen und einer tragischen Vergangenheit dargestellt, der in einem Dreiecksverhältnis mit Nell und Fen steht. Diese Darstellung weicht von der realen Person ab, die als renommierter Anthropologe bekannt war. Die Darstellung im Roman ist eine künstlerische Freiheit und weicht erheblich von der historischen Realität ab.

4. Fiktive Darstellung der Tam-Gesellschaft

Im Roman wird die Tam-Gesellschaft als eine matriarchale Gesellschaft dargestellt, in der Frauen dominieren und Männer untergeordnet sind. Diese Darstellung ist eine künstlerische Freiheit und weicht erheblich von der historischen Realität ab. Es gibt keine ethnografischen Belege für eine solche Gesellschaftsstruktur in Papua-Neuguinea. krabarchive.com

5. Fiktives Ende von Margaret Mead

Im Roman stirbt Nell während einer Schiffsreise nach New York an den Folgen einer Fehlgeburt. Diese Darstellung ist eine künstlerische Freiheit und weicht erheblich von der historischen Realität ab. Die reale Margaret Mead lebte bis 1978 und hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Anthropologie. Alma Gottlieb

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Euphoria von Lily King eine fiktionalisierte Darstellung der realen Personen Margaret Mead, Reo Fortune und Gregory Bateson bietet. Obwohl der Roman auf wahren Begebenheiten basiert, weicht er in mehreren Punkten von der historisch verbürgten Biografie dieser Personen ab. Es ist wichtig, diese fiktionalen Elemente zu erkennen und sie von der realen Geschichte zu unterscheiden.

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