Fazit:
Das ist kein großes Buch: Die quälend belehrenden Seiten über Umwelt, Vogelwelt, Bevölkerungswachstum und Irakkrieggeschäfte irritieren ebenso wie die verkrampften Rückblenden viele Jahrzehnte zurück gegen Buchende, als ob der Autor schnell noch was nachtragen müsste (auf das niemand wartete).
Gleichwohl unterhält der Roman prima: Ich schätze psychologische Genauigkeit, zwischentonreiche Dialoge, den Verzicht (meist) auf hart Unrealistisches und eine überwiegend amüsant elaborierte Sprache (auch wenn Pattys lange Tagebuchauszüge eigentlich nicht so klingen sollten wie original Jonathan Franzen).
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Sprache:
Hier fühlt man sich in guten Händen, die Erzählstimme klingt souverän, Dialoge sind voller Zwischentöne und unterhaltsam (Ausnahmen s.u.). Jonathan Frantzen holt selbstreflektierte liberale Bildungsbürger mühelos ab:
In the earliest years, when you could still drive a Volvo 240 without feeling self-conscious… Merrie, who was ten years older than Patty and looked every year of it, had formally been active with the SDS in Madison and was now very active in the craze for Beaujolais nouveau. When Seth, at a dinner party, mentioned Patty for the third or fourth time, Mary went nouveau red in the face… Patty always had friends plural, never anything intense… she never ceased to be shocked by the sister’s lack of sisterliness
Franzen schreibt sparkling Beaujolais, wenn auch nicht nouveau. Manchmal. Dann wieder verwendet er 4-letter-Words (in unterschiedlichen Erzählperspektiven), und ich alte Schachtel bin schockiert. Die 45jährige Patty ist
the housewive who wanted to fuck a rocker
Umso besser wiederum, wie zu Pattys Glück Rocker Katz zutrauliche Girlies verschmäht, weil er Hausfrau Patty aufspießen möchte:
Meeting a choice adolescent now was like smelling strawberries when you were hungry for a steak
Franzen verwendet gelegentlich hochgestochenes Vokabular, das man mit kleinem Latinum trotzdem versteht (sedulous, aqueous). Einmal aber war ich hilflos:
furzed over
Selbstverständlich erzählt Jonathan Franzen nicht chronologisch, sondern er mischt Generationen und Epochen. Die am weitesten zurückliegenden Erzählungen über bis dato kaum berücksichtigte frühe Generationen kommen ganz am Ende – als ob der Autor dringend etwas nachtragen müsse (das niemand vermisste).
Selbst einzelne Kapitel erzählt Franzen nicht chronologisch: er beginnt mit einem konkreten Ereignis und blendet dann ein wenig zurück zu den Hintergründen. Das ist überwiegend übersichtlich, auf Dauer monoton.
Tagebuch:
Vom allwissenden Erzähler wechselt Franzen zweimal zum Tagebuch der Patty Berglund, hier würden wir einen grundlegend anderen Ton erwarten. Franzens Patty plaudert indes genauso elaboriert wie Franzen – samt frauenfeindlichen Kommentaren, hochtouriger Ironie, langen Dialogen und durchgehend in der dritten Person über sich; Zeilen wie “the autobiographer is pleased to think” klingen wunderlich, wenn sie von der Autobiografin selbst stammen sollen (der zweite Tagebuchauszug thematisiert dieses Befremden sogar). Das Tagebuch amüsiert, realistisch ist es nicht. Dieses Unbehagen verfliegt nicht, wenn andere Romanfiguren Pattys Tagebuch im Franzen-Stil zu lesen bekommen, auch wenn das eine tolle Plotidee ist.
Dieser “unrealistisch”-Vorbehalt gilt auch für die wörtliche Rede von Figuren wie Supermacker Richard Katz – Rocker und Terrassenbauer –, der abschnittweise vergnüglich intellektuell, aber keinesfalls realistisch parliert. Doch gegen meine eigenen Ansprüche mag ich Dialoge, die pfiffig filmi und damit weniger realistisch klingen.
Die geschriftstellerten Aussprüche passen nicht immer zu den Charakteren, auch deren Verhalten irritiert bisweilen. So entpuppt sich der geduldige “nice man” Walter Berglund mit 47 plötzlich als fluchender Wutbürger (hunderte Seiten später erfahren wir von seinen Wutbürgervorfahren). Frantzen behauptet dann noch, Walter sei schon als Jugendlicher oft wütend gewesen; doch ich erinnere nichts dergleichen aus den vielen Seiten über Walters Jugend; und in Walters Kindheit, die erst im letzten Buchfünftel beginnt, ist nur dessen Vater wütend und Walter erduldet es.
Wiederholt wunderte ich mich ab Buchmitte über weitere plötzlich auftauchende Eigenschaften, von denen zuvor nie die Rede war:
- so die ”beautifully toned arms” der mittelalten Hausfrau Patty Berglund, deren Basketballzeit Jahrzehnte zurückliegt.
- nichts deutete daraufhin, dass aus Joey ein republikanischer Geschäftshai werden würde.
- dass Joey und Connie als Schüler erfolgreich Uhren verkauften, erfahren wir erst Jahre später im Rückblick, wenn es als Hintergrund gut in die dann aktuelle Handlung passt.
Tiefe Tiefe:
Im leicht ironischen, spöttischen und etwas zu einheitlichen Ton des Buchs erreichen die Dialoge bei aller Qualität meist eine mittlere Tiefe. Tiefe Tiefe hat für mich das lange, quälende Gespräch zwischen der verheirateten Patty Berglund und Richard Katz, dem besten Freund ihres Mannes, der sie unbedingt flachlegen soll.
Etwas aufdringlich konstruiert Jonathan Franzen später eine Gegenszene, bei der Pattys Mann Walter in Versuchung und ein entsprechendes Palaver gerät.
Schon in diesem Buch von 2010 spricht Franzen gesellschaftliche Trends an, die mir erst viel später aufstießen, wie weiße Überlegenheitsfantasien, Hassrede, Wutbürger, Katzenanbetung und einen Hauch von #metoo. LGBTQXYZ und BLM fehlen.
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Stimmungswechsel:
Nach dem ersten Buchdrittel, ab Seite 203 von 598 meiner englischen Taschenbuchausgabe, schaltet Jonathan Frantzen sein amüsant hochtouriges Parlando überraschend 40 Seiten lang ab: das Kapitel ”Mountaintop Removal” ermüdet mit einem didaktisch wertvollen Trialog um Umwelt, Politik, Bevölkerungsentwicklung und bedrohte Vogelarten.
Hier outet sich Jonathan Franzen als Umweltschützer und gutmenschelnder Langweiler, er wirft Ton, Inhalte und Spaßfaktor des ersten Teils über Bord. Das Kapitel klingt, als stamme es von einem viel schlechteren Autor, oder aus Frantzens Highschool-Zeit.
Der Spuk ist nach gut 40 Seiten zunächst vorbei, ein verblüffendes Intermezzo, dass nun indes weitere Abstürze der Romanqualität und damit der Leserlebensqualität befürchten lässt – und dieser Absturz kommt später tatsächlich mit dem Kapitel “The Nice Man’s Anger” wieder über die Umweltschützer Walter und Lalitha (ausnahmsweise kaum Erotik dabei) und später auch über den irakkrieg. Dort malträtiert Franzen den Leser tatsächlich mit Einschläferndem wie:
An LBI subsidiary, ArDee Enterprises, had recently won a big contract to supply the high-grade body armor that American forces, as improvised explosive devices began exploding in every corner of Iraq, had belatedly discovered themselves in sore need of.
(An anderer Stelle wiederkäut Frantzen das antisemitische Narrativ von “illegal settlements and Palestinians not having any rights”, das in der deutschen Fassung sicherlich gestrichen wurde.) Auf den fast 600 Seiten meiner englischen Taschenbuchausgabe sind nicht nur diese belehrenden Kapitel zu lang, sondern auch die Rückblende zu Walters Urgroßvater und Großvater, bis weit vor Pearl Harbour.
Frauen:
Mehrfach beschreibt Jonathan Franzen einfühlsam – oder verächtlich? – die Angst mittelalter Frauen, vor tollen Hengsten nicht mehr zu bestehen, nicht nur bei Hauptfigur Patty Berglund, sondern auch bei Zufallsbegegnungen des kernigen Frauengroßverbrauchers Richard Katz:
Lucy’s doughty little ego, it’s flotation on a sea of aging-female insecurity
Überwiegend lässt Franzen die Frauen nach den Männern jiepern und sie anbeten, wenn auch nicht immer so dramatisch wie Lalitha:
I don’t like a cool man. I like a man like you… you don’t have to love me, Walter. I can just love you. All right? You can’t stop me from loving you… I respect your reasons for being angry. They’re part of why I love you. But it just makes me so happy to see you happy.
Ja, ernsthaft. Oder Connie Monaghan (Frantzen hat an diesen Frauen was gefressen) (und beide sind zufällig auch klasse im Bett):
I only want to be with you. That’s all I want in my life. You’re the best person in the world… If you want children, I’ll raise them for you.
Die Mutter dieser Schmachterin sagt später zum Beschmachteten:
My daughter isn’t some dog that you can tie to a parking meter and then forget about.
Wieder so ein Satz, in dem Frantzens Personal weit smarter spricht, als es zur Figur passt.
Walter Berglunds Frau Patty und Joey Berglunds Freundin Connie tun nicht viel tagsüber, doch ihren Männern zuliebe wollen sie arbeiten gehen. Umgekehrt gibt es jedoch auch die Anbetung des jungen Walter Berglund für die junge Patty.
Assoziation:
- John Irving – Frantzen wie Boyle klingen wie Creative Writing-Lehrer, schreiben unterhaltsamer und lesbar schärfer als alle Deutschen nach den Buddenbrooks – und wirklich tief fühlt man nicht mit ihren Geschöpfen (anders als bei Jonathan Frantzens Ausgrabung Paula Fox)
- C. Boyle – noch ein Creative Writing-Veteran, der manchmal scheint’s lieber Effekt als Tiefe hat. Vor allem erinnerte mich Franzens Vorortsiedlung Barrier Street an die Siedlung aus Boyles América, ebenso wie der Ausgang beider Bücher; ein verschluckter Ehering kurz vor einer ehebrecherischen Flugreise und dessen Wiedererlangung erinnern momentweise an Slapstickszenen, wie sie Boyle und Irving häufig kreieren
- Um drei Ecken assozierte ich auch meine Stippvisite bei Stephen King, und zwar unter dem Aspekt: Die Ami-Superstars kochen auch nur mit Wasser
- Bei gutgestellten Mittelschicht-Ami-Familien in östlichen Vororten und ihren Ehebruchiaden sowie Fleischbeschau mit Männeraugen denkt man auch an John Updike, speziell an die Rabbit-Reihe und an Ehepaare
- Jonathan Franzen sagte über Alice Munro, sie könne auf 30 Seiten das tun, wofür er 800 Seiten braucht; interessant
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