Miranda July sagt viele coole Sätze, die runtergehen wie Sahne auf Mandelmilch-Basis, selbst wenn man sie nicht versteht. Deswegen wurde sie ja auch schon 2012 vom US-Kongress vorgeladen, “to explain exactly what her whole thing is” (Quelle).
In einer schäbigen Stadt lässt die Ich-Erzählerin ein schäbiges Motelzimmer, in dem sie vielleicht ein paar Tage bleibt, für 20.000 Dollar renovieren. Schon der Plan von Los Angeles nach New York mit dem Auto zu fahren statt zu fliegen, war absurd. So wird die ganze Geschichte zwar immer wieder punktuell lustig, aber ohne Realitätsbezug.
Ihr Kind ist nicht binär und sie nennt es “they” oder “them”, nur zum Neugeborenen sagt sie “it”.
Aber das ist trotzdem nicht nur eine Serie von Comedy-Nummern, keine Abfolge von Wichsen, dem Toyboy beim Duschen zugucken und Telefonaten mit dem Kind: Es gibt tiefe Bezüge zwischen verschiedenen Kapiteln. Die erotische Spannung zwischen der 45-Jährigen Ich-Erzählerin und dem 14 Jahre jüngeren, gut gebauten Hertz-Angestellten wird plastisch. Man fiebert mit. Irgendwann schreibt sie ihm,
I want to put every part of your body in my mouth
Und auch da fallen sie noch nicht übereinander her, sondern schleichen umeinander und schicken sich spannend getextete Textnachrichten, umspielen sich.
Ein paar Mal erklärt die Autorin Dinge zu deutlich, so, wenn die Ich-Erzählerin eine gewisse Audra trifft, die in einem früheren Buchteil kurz erwähnt wurde – muss die Autorin wirklich Audras Rolle noch einmal erklären? Der Leser weiß es auch so, aber vielleicht kalkuliert die Autorin mit einer besonders kurzen Aufmerksamkeitsspanne.
Julia Miranda July bringt nicht nur wunderliche Handlungen, Figuren und Gedanken, sondern auch merkwürdige Formulierungen wie “carpe fucking diem”
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Mein Lieblingssatz:
I need it to eat messily while reading, to sometimes not get dressed all day.
Um sich von ihrer unglücklichen Liebe abzulenken und auf Rat ihrer lesbischen, sexpositiven Freundin Jordi putzt die Ich-Erzählerin durchs Haus –
I attacked the refrigerator and freezer, our closets, junk drawers… I went room by room: every drawer, floor, cabinet, shelf, window
Ich wünschte nur, unglückliche Liebe würde mich ähnlich inspirieren (oder besser, ich kennte eine unglücklich (nicht in mich) verliebte Putzfrau).
Schwächen:
Über lange Strecken akzeptierte ich All Fours als Groteske über bizarre südkalifornische Zeitgeistgestalten. Kein Wunder, dass die Ich-Erzählerin sagt:
i liked her. She was a lot stranger than I had ever realised
Doch im letzten Viertel gerinnt der Roman zur Frauenzeitschriftenkolumne, überfrachtet mit Julys Wechseljahre-Thema und seltsamen Aussetzern der Elterngeneration. Sie behauptet im Nachwort, ihre Interviews für dieses Buch würden im Text nicht aufscheinen – tatsächlich enthält der Roman eine völlig unrealistische Interviewsequenz.
Eine weitere Schwäche: die Ich-Erzählerin ist eine mittelbekannte Künstlerin, einige der Romanfiguren kennen sie; doch wir erfahren nie Näheres über ihre Werke, können nur ahnen, dass sie Schriftstellerin ist und nicht etwa Filmemacherin, Saxofonistin oder Malerin. Die Ich-Erzählerin hat für 20.000 Dollar einen einzelnen Satz an die Werbeabteilung eines Whiskyherstellers verkauft, und davon renoviert sie nun ein Hotelzimmer, dass ihr nicht gehört – doch wie der 20.000-Dollar-Satz lautet, und dessen ursprünglichen Kontext, verrät sie nicht.
Miranda July reitet ewig auf ungewöhnlichen Sexpraktiken und -konstellationen herum (jederzeit auch Selbstbefriedigung), verwendet expliziteste Sprache; nur eins kommt nicht vor: Normalsex zwischen Mann und Frau. Wer meint, dass manche Dinge auch mal unausgesprochen bleiben können, sollte dieses Buch meiden. Wer gern den Sextalk auf Deutschlandfunk Nova hört, wird erregt blättern.
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Qualität |
Menge |
Handlung |
6 (von 10) |
|
Konflikt |
6 |
8 |
Dialog |
8 |
4 |
Humor |
8 |
5 |
Liebe |
3 |
6 |
Erzählstimme |
8 |
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Spannung |
7 |
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Details |
8 |
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Realismus |
3 |
Assoziation:
- Erotische Experimente, Diskussion und Obsession samt Masturbation im US-Hotelzimmer – wie im Roman VOX von Nicholson Baker
- Miranda Julys viel gelobte Kurzgeschichte Something that Needs Nothing (engl. Volltext) entstand fast 20 Jahre früher und hat viele Elemente des Romans – lesbischen Sex, originelle Phrasen, originellen Sex und Selbstironie. Die zwei jugendlichen Hauptlesben prostituieren sich für eine ältere Geldlesbe und dann in der Peepshow für Männer; ein Sticker sagt vieldeutig “fuck your gender”
- Die Erzeugnisse fiktiver Schriftsteller in Romanen lesen wir fast nie, dazu sind die echten Schriftsteller zu faul
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