Romankritik: Das wilde Herz, von Andrea de Carlo (2014) – 5/10

Fazit:

Andrea de Carlo liefert über 450 Seiten Machtspiele, Statusängste und Aggression, überwiegend zwischen zwei der drei Hauptfiguren, und er textet klar männerfeindlich. Ab der zweiten Buchhälfte gibt es etwas Erotik, James-Bond-Action und viel Schmalz, hier überzeugt das Buch weniger.

De Carlo schreibt meist realistisch, psychologisch genau, mit guten Details und leicht lesbar; doch der ständige Psychokrieg und das Männermackertum nerven. Übergriffigkeit und auch Nachgiebigkeit einzelner Akteure überzeugen nicht immer.

Meist nachvollziehbar:

Die Handlungen wirken meist nachvollziehbar, die wenigen Dialoge zeigen interessante Spannung.

Das ist gute ehrliche Unterhaltung, kein autofiktionales Gewuhre, keine Schreib- und Wichsblockade in oder aus Berlin-Mitte oder Leipzig und kein Experimentalkäse. Es geht über ausgewachsene 450 Seiten, eine üppige Länge, nicht schwindsüchtig-schwachbrüstig und noch typografisch aufgeblasen. Trotzdem befriedigt es mich nicht.

Craig Nolans Übellaunigkeit strengt an: Ihm

ist klar, dass er zu oft den unsympathischen, lästigen Part übernimmt, den des misstrauischen, hyperrationalen, emotional kontrollierten Mannes.

Doch der englische Star-Anthropologe mit den lädierten Knochen kommt aus seinem Grant nicht heraus, begreint sogar “das unerträgliche Zirpen der Zikaden”, analysiert ständig sein Umfeld, stöhnt über  “Scheinheiligkeit und die unverhohlene Beutegier” und lässt den Missmut an seiner jüngeren, extrovertierten Frau aus, der italienischen Bildhauerin Mara. Das klingt, als seien wir dabei, man kriegt  Hautausschlag von diesem Negativisten. Überdeutlich, und doch realistisch.

Allerdings drückt Craig aufs Lesergemüt; Selbstmitleid und Statusgehabe walzt de Carlo breit aus. Craig leidet empört unter den lautstarken Dacharbeiten, weigert sich aber zunächst “unglaublich verbiestert”, das Haus für ein paar Tage zu verlassen – selbst schuld.

Freilich belegt eine Studie laut Roman, dass “Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie” bei Frauen ankommen. Und die Romanhandlung voll narzisstischer, machiavellistischer und psychopathischer Mackermänner scheint es zu bestätigen.

Auch Craigs Partnerin Mara,

die temperamentvolle Italienerin, zeichnet de Carlo aufdringlich – den Kaffee trinkt sie grundsätzlich zu heiß und verbrennt sich:

Was soll sie machen, die Ungeduld ist einfach stärker…warme Sachen mag sie nun mal kochend, kalte Sachen eisig. Das Laue hasst sie

Einmal steht Mara aufgewühlt unter einer kaputten Dusche, “alle zehn Sekunden wird das Wasser kalt, dann wieder heiß, dann wieder kalt”. Anschließend kocht sie für sich und ihren Mann ein Essen, das ist “ungesalzen…, teils roh teils verbrannt“. Muss das alles so symbolisch sein?

Und zur Buchmitte hin kriegt auch Mara Statusprobleme und Selbstmitleid:

Dies ist jetzt schon der zweite Angriff auf ihre Würde in kürzester Zeit, was ihre Wut auf sich selbst noch weiter anheizt

Von Selbstwertnöten und Gockelmanövern, von dicken Egos, Autos und Muckis, handelt das Buch zum guten Teil, es ist keine Liebesgeschichte. Es quält. Es gibt ein bisschen Liebe gegen Ende, die ist aber viel zu schmalzig und wenig glaubwürdig.

Andrea de Carlo bringt gute Details

aus den Berufen seiner Hauptfiguren, aus der Bildhauerei, aus dem Hausbau:

die Korkdämmung, die Regenrinne, die Fallrohre, die Schutzfolie aus Polyethylen, Traglattung und Konterlattung

und aus der Anthropologie:

Dieser Instinkt ((sich aufrichten zu wollen)) ist allen Primaten gemeinsam, wenn sie einem unbekannten Individuum gleichen Geschlechts begegnen: ein Gorilla oder ein Schimpanse oder sogar ein Rhesusaffe würde sich genauso verhalten

Insgesamt sind die anthropologischen Erläuterungen indes zu lang, wiederholt mehrere Seiten am Stück. Eine bizarre Anthropologiegeschichte aus dem Roman mit “Topfatmung” (sic) und “Tummo” habe ich nachgeschlagen, sie existiert tatsächlich.

Auch Abwägungen walzt de Carlo zu breit aus, mehrfach seitenlang mit rhetorischen Fragen (hier S.386f):

Oder soll sie… aber wie lange würde… Und was soll sie…  Oder hat sie… Ist sie womöglich… Und würden… Und wenn ja, wo… Was soll die… Und was, wenn sie das… Was weiß sie denn… Kann sie sich denn… Aber können… Sind sie nicht eher… Worauf basierte eigentlich… Aber wieso hatten sie… Wieso hat er dann… Wieso hat er sie…

De Carlo erzählt streng chronologisch,

wechselt aber nach jedem kurzen Kapitel die Perspektive, was Cliffhanger ermöglicht: Die Anbahnung eines möglichen Ehebruchs verteilt der Autor aufdringlich britzelnd auf nicht aufeinanderfolgende Kapitel, unterbrochen von Kapiteln über einen einzelnen Mürrischen, Selbstmitleidigen.

Später unterbricht der Autor mehrere Mikrokapitel über einen möglichen Kriminalfall mit Kapitelchen, die allein Grübelei und rhetorische Fragen enthalten, ohne dass die Handlung fortschreitet, hier versagt de Carlos Konzept. Das historische Präsens erscheint als weiterer billiger Trick der Spannungserzeugung.

Dank der wechselnden Perspektiven weiß der Leser mehr als die einzelnen Akteure, durchschaut Lügen, kennt Hintergründe. Doch de Carlo hätte mehr aus dieser Form machen können, zeitweise klingt der Autor wie ein allwissender Erzähler, der die Gedanken aller Figuren teilt.

Konstruktion mit Mängeln:

Einmal heißt es, “weder Ivo noch sie hatte eine Uhr dabei” – aber wir wissen aus dem Roman, dass sie immer ihr Handy mitführt, und es gibt kein Anzeichen, dass sie es hier vergaß. (Im Gegenteil, ihr Mann will Mara anrufen, was er nicht planen würde, wenn er zum Beispiel ihr Handy im Haus gefunden hätte.)

Einmal grämt sich der perma-übellaunige Craig Nolan, dass es im Internet “keine klare Unterscheidung gibt zwischen gesicherten Daten, Banalisierungen, Verfälschungen und Zusammenfassungen von populärwissenschaftlichen Autoren auf niedrigstem Niveau”. Aber seit 2004 gibt es “Google Scholar”, das einem Wissenschaftler wie Craig eine Menge bieten sollte – eine Schwäche im sonst scheinbar gut recherchierten Roman?

Gegen Ende wird die zurückliegende “Sache in Sanremo ((sic))” plötzlich wichtig. Sie wurde jedoch bis Seite 372 nie erwähnt, obwohl sie angeblich schon länger eine Hauptfigur b.-lastete. Sie hätte früher angedeutet werden müssen.

Gelegentlich wird es triefig, nur ein Beispiel:

Sie haben ein Kommunikationsniveau erreicht, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, eine intensive spirituelle Dimension. Und was bedeutete diese Traurigkeit in seinem Blick, davor und danach? Was bedeutet diese Offenbarung seiner Sensibilität… diese vollkommen unerwartete Verletzlichkeit, dieses verzweifelte Verlangen, mit dem er sich an sie geklammert hat? War das nicht ein authentisches Wiederfinden?

Sprache:

Die Übersetzung klingt unauffällig lesbar. Ich störte mich nur an Ausdrücken wie “uninteressiert”, “gefühlsgeizig“, “mit ihrer verschiedenen Nationalität”, “an einem unsichtbaren Seil von einer superschnellen, superresistenten Winde gezogen”, “muss er sich tierisch anstrengen” (keine wörtliche Rede).

Es gibt einen Satz, der hat schon bis zum Semikolon 41 Wörter und 3x “ist”:

Als es sechs Uhr ist und der Krach der Barbaren von der anderen Straßenseite schon seit einer Weile verstummt ist, beschließt Craig Nolan, dass er für heute genug davon hat, den Invaliden zu spielen, der auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen ist; …

Einige Tippfehler gesellen sich hinzu.

Assoziation:

  • Beim Autor und bei seinem Buch dachte ich an Thommie Bayer – beide Autoren betätigen sich auf mehreren Kunstfeldern und schreiben über kreative Bürgerliche, Bohos
  • ich dachte auch an Nicht-Maigret-Romane von Georges Simenon – auch die sind gut recherchiert, gut geplottet und ohne Ego-Trip des Autors, nett, aber nie hinreißend; damit passen de Carlo und Simenon gut in ihren früher  gemeinsamen Verlag Diogenes
  • Amazon-Werbelinks: Andrea de Carlo | Thommie Bayer | Georges Simenon | Fabio Volo

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