Buchkritik: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, von Andrea Wulf (2015) – 7/10

Fazit:

Andrea Wulf bemüht sich intensiv, Alexander von Humboldt als Klimaschützer zu zeigen – der erste ökologische Wissenschaftler, der den Raubbau an der Natur anprangerte statt pries und die Vernetzung allen Lebens betonte. Zudem war von Humboldt pro-divers, antirassistisch, antikolonialistisch und schätzte sogar die Amazonas-Indios, oder zumindest ihre Naturkenntnisse. Die Autorin vertieft sich zudem sehr/zu ausführlich in die Gedankenwelt von Goethe, Kant, Darwin, Henry David Thoreau  und Friedrich Schelling u.a.

Der Protagonist und seine Reiseziele bleiben blass, trotz ausführlicher Recherchen in vielen Archiven und an exotischen Plätzen. Wulf schreibt leicht lesbar und glanzlos.

Wenig Privates:

Andrea Wulf interessiert sich (teils zu) stark für Wissenschaftsgeschichte, Geistesgeschichte und für Zeitgenossen und/oder Bewunderer wie Thomas Jefferson, Goethe, Kant, Napoleon, Simón Bolívar, Friedrich Schelling, Charles Darwin, Ernst Haeckel, John Muir (mehr als für Wilhelm von Humboldt). Alexander, das Mensch, bleibt blass, ebenso sein Südamerika-Gefährte Aimé Bonpland; die eingedeutschte Sprache der Biografin peppt das Narrativ ebenfalls nicht auf (s.u.).

Ihre Humboldtrecherche, schreibt Wulf im Vorwort, war “eine Reise um die Welt” und bis auf einsame ecuadorianische Berge hinauf – doch nichts von ihren Erlebnissen steht in der Biografie: so berichtet Andrea Wulf auf S.117, wie Humboldt auf der Antisana auf 4000 m Höhe eine kalte Nacht in der, so Humboldt, “am höchsten gelegenen Wohnung der Welt“ verbrachte; diese längst “baufällige Hütte“ sah Wulf auch bei ihren Recherchen fast zwei Jahrhunderte später, wie sie im Vorwort auf Seite 28 schreibt – doch im Haupttext erwähnt sie ihre Erlebnisse nicht.*

Meine Penguin-Taschenbuchausgabe ist hervorragend ausgestattet: es gibt viele Schwarz-Weiß-Bilder in brauchbarer Qualität, einen Farbteil und einen dicken wissenschaftlichen Anhang. Die Endnoten bringen ausschließlich Quellenangaben und keine vertiefenden Hintergrundinformationen, so dass der beflissene Leser nicht bei jeder hochgestellten Ziffer im Lauftext hinten nachschlagen muss. Ich vermisste aktuelle Landkarten; sie hätten gut auf die vorderen farbigen Innenklappen gepasst, dort erscheinen nur banale Landschaftsaquarelle.

Nerd, Reiseblogger, Infografiker:

Bei Andrea Wulf ist Alexander von Humboldt ein woker Poster boy – antikolonial, Klimaschützer, antirassistisch, Nature writer, schwul, Digitalnomade, nachhaltig, KI auf Beinen, Berliner, Infografiker, Baumschützer, Pariser, ökologisch, Single, Nerd, ganzheitlich, Reiseblogger, Schnuckel. (Andererseits war von Humboldt Coming-out-Verweigerer und weder trans, cross, of colour noch Diskriminierungsopfer.)

Über von Humboldts Liebesleben spekuliert Andrea Wulf nicht; sie referiert nur das wenige Bekannte, zusammengefasst auf Seite 115f. Sie schildert von Humboldts Schwärmen für Kommilitonen und wechselnde Weggefährten (einer heißt bezeichnend Gay-Lussac, später “viele junge Männer” in seinem “Hofstaat”), den Homo-Verdacht seiner Zeitgenossen und schreibt ansonsten mehrfach, von Humboldt sei schon seiner Umgebung “ein Rätsel” gewesen. (Ähnlich diskret geht Wulf mit dem dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson um; er sprach mit Alexander von Humboldt lange über Sklaverei und Kolonialismus; doch Wulf spekuliert nicht über Thomas Jeffersons mutmaßliche Beziehung zu einer Sklavin auf seiner Farm Monticello, die bestens ins Narrativ gepasst hätte.)

Ein Herz für die Natur:

Neben aller Wissenschaft betont Wulf  wiederholt von Humboldts poetische Ader und wie er sich von der Natur, jenseits aller Wissenschaft, anrühren ließ, auch inspiriert durch seine Gespräche mit Goethe und seinerseits eine Inspiration für Darwin, Thoreau, Haeckel. Deutlich wird Wulfs Neigung zu Natur-Lyrik unter anderem in ihrer Formulierung von Seite 298:

…ein Umschlag mit dem wohlklingenden Titel “Luftmeer” – Humboldts poetischer Ausdruck für die Atmosphäre…

Auch in ihren langen Exkursen zu Henry David Thoreau und zu Ernst Haeckel im Kapitel “Kunst, Ökologie und Natur“ betont Wulf  die Verbindung von Natur, Wissenschaft, Empfinden und Kunst. Oder in ihrem meterlangen John-Muir-Exkurs:

Wie Humboldt und Thoreau war auch Muir überzeugt, dass zum Verständnis der Natur die Gefühle genauso wichtig waren wie wissenschaftliche Daten.

Der Muir-Exkurs befremdete mich noch mehr als die anderen: mit Muir, und nicht mit Humboldt, endet das Buch. Und der Muir-Teil endet mit dem Beginn seiner jahrzehntelang herbeigesehnten Südamerikareise auf den Spuren Humboldts – doch mit diesem Beginn in Belém endet der Muir-Exkurs und endet der Buch-Haupttext, von Südamerika selbst kein Wort, und auch nicht von Humboldt. Kein runder Schluss für eine große von-Humboldt-Biografie.

Alle diese Humboldt- und Naturfreunde, die Andrea Wulf so ausführlich und liebevoll vorstellt, fallen auf durch Eigenbrötlerei und Einsiedelei.

Freunde:

Auf Seite 65 kommt “einer seiner engen Freunde” kurz zu Wort – wer das ist, erfahren wir erst in der Endnote auf Seite 447, und was dieser Herr für von Humboldt bedeutete, hören wir gar nicht, ebenso wenig wie beim “alten Freund” von Seite 70. Dass ihr Protagonist überhaupt enge Freunde hatte, überrascht nach Wulfs Ausführungen ohnehin.

Es gibt auch zu wenig O-Ton. So habe z.B. Alexander von Humboldt mit frühen beruflichen Erfolgen brieflich angegeben, schreibt Wulf und bringt eine Quellenangabe dazu – aber kein Zitat.

Vorhandene Zitate bestehen oft nur aus wenigen Wörtern, eingebettet in einen längeren Satz; so bleibt der Protagonist blass, etwa hier:

Ihre Expedition war nicht gerade eine “Lustreise”47, schrieb Humboldt.

Oder:

Die “Maschinerie”, sagte er, sei in seinem “Alter eben rostig”91.

Viel ausführlicher, zu ausführlich, schreibt Wulf über Johann Wolfgang von Goethe, den Freund der Humboldt-Brüder. Doch auf Seite 114 beschreibt Goethe eine Freundin als “weiblichen Vulcan”, und Wulf nennt dazu akribisch wie immer eine Quelle, auf Seite 454, aber nicht die gemeinte Frau.

Auch später verworfenen naturwissenschaftlichen Theorien (“Vulkanisten” versus “Neptunisten”, Transmutation versus göttliche Schöpfung) und Kants Weltverständnis gibt die Autorin sehr viel Raum, unerklärlich lange referiert sie Simón Bolivars südamerikanische Schlachten, Darwins Beagle-Reise und Henry David Thoreaus Waldsiedelei – Thoreau bekommt 15 Seiten, obwohl er von Humboldt wieder traf noch mit ihm korrespondierte, sondern lediglich dessen Bücher las; ähnliches gilt für Ernst Haeckel, George Perkins Marsh, John Muir. (Wulf könnte schon zu Beginn dieser langen Exkurse sagen, was die jeweilige Figur mit Humboldt verbindet und so die Freude am Lesen fördern.)

Wulf, die offenbar in London lebt und für den angelsächsischen Markt schreibt, berichtet ausführlich über die Rezeption der Humboldtschen Bücher in England, aber wenig über die deutsche und französische Kritik. Auch beim Medienecho auf Humboldts Tod blickt sie vor allem nach London und in die USA. Und der Epilog beginnt mit dem scheinbar Wichtigsten:

Alexander von Humboldt ist in der englischsprachigen Welt weitgehend vergessen.

Übersetzung:

Die Recherche- und Kompositionsleistung von Andrea Wulf kann ich nicht beurteilen. Sprachlich ist die deutsche Fassung eine meist gefällige, aber nicht große Biografie, nach all den Auszeichnungen für dieses Buch eine Enttäuschung. Andrea Wulf schreibt  leicht lesbar und beeindruckt nie. Andererseits: abgesehen von den paar Jahren in Südamerika führte Humboldt meist ein langweiliges Gelehrtenleben, aber es liest sich bei Wulf nicht zu trocken.

Wohlgemerkt, die deutsche Fassung ist eine Übersetzung, Hainer Kober übertrug das Buch aus dem Englischen. Und die Erfahrung lehrt: Viele Übersetzungen sind schlecht, insonderheit Übersetzungen aus dem Englischen. Dies hier ist keine  Ausnahme.

Außer “Blu-Tack” sowie mehrfach “Cash Crops” und “Royalisten” im deutschen Text fielen mir immerhin keine Begriffe auf, die sich faul ans Englische anlehnen, höchstens noch “kataklysmisch” und “glazial” (beide Seite 400).

Völlig überraschend bringt ein Bildtext auf Seite 401 neben den eingedeutschten John-Muir-Zitaten auch das englische Original. Diese Originale vermisst man aber noch mehr bei eingedeutschten Wortspielen von John Muir wie “mammuttig” (S. 403) oder “Eichhörnchenhausen “(S. 407; das englische Original erscheint auch nicht in den Endnoten).

Sprache:

Sensible stolpern in der deutschen Fassung über weiteres:

Das Verlags- und Zeitschriftenwesen boomte, und in dessen Kielwasser machte die Alphabetisierung rasante Fortschritte

Hat Zeitschriftenwesen ein Kielwasser? Zumindest unglücklich klingt dieser Satz über geplagte Extremitäten von Seite 120:

Die Beine fühlten sich in dieser Höhe schwer an wie Blei: Sie litten an der Höhenkrankheit, ihnen war übel, sie fühlten sich benommen, ihre Augen waren blutunterlaufen, und das Zahnfleisch blutete. Ihnen war andauernd schwindelig…

Der Satz

In der industriellen Revolution wurden überall mechanische Webstühle und andere Maschinen entwickelt, woraufhin überall Manufakturen entstanden

verwirrte mich. Beim Wort “Manufakturen” denke ich an Handarbeit, aber wenn Wulf vorher “mechanische Webstühle und andere Maschinen” anführt, denke ich gerade NICHT an Handarbeit.

Mitunter ist die Rede von “Ureinwohner” (Farbteil) oder “südamerikanischen Eingeborenenstämmen” (Seite 404) – mir behagen solche Formulierungen nicht.

Von Humboldt “verköstigte” (schmeckte selbst, S. 100) das Flusswasser, korrekt wäre “verkostete”. Die Formulierung “Amerika…bekriegte sich mit Mexiko” (Seite 317) haut auch nicht vom Hocker

Unschöne Wortwiederholungen:

Mehrfach erscheinen schlichtere Wörter mehrfach in einem einzigen Absatz, z.B. 2x “war(en)” auf Seite 35 und 94 und 3x auf S. 100: “waren… war… war” innert 4 Zeilen. Weitere “war… war”-Kaskaden begegnen auf Seiten 120, 161. Seite 155 liefert dreimal “seine(n)” innert zwei Zeilen.

Es gibt auch zwei Satzanfänge mit “Als” hintereinander auf Seite 38. Die Konstruktion “wie…sagte” verwendet der Übersetzer  zweimal innerhalb eines einzigen Absatzes auf Seite 23.

Vertrat die Ansicht/Meinung/These/Auffassung:

Der erste Absatz auf Seite 88 enthält die verbotene Phrase “vertraten sogar die Ansicht“, und der nächste Absatz redet vom “größten Anteil an der Verbreitung dieser Ansicht” – eine störende Wiederholung und eine steinige Substantivwüste. Das justiziable “vertrat die Ansicht/Meinung/These/Auffassung” rekurriert zudem auf den Seiten 138, 157, 208, 268, 291, 312.

Weitere Beschwerden:

((Philadelphia), damals mit seinen ((sic)) fünfundsiebzigtausend Einwohnern die größte Stadt der Vereinigten Staaten

1834, im gleichen Jahr, in dem… ((sic, S. 296))

…auf kleinen Zetteln Notizen, die er am Abend in sein Tagebuch umtrug und erweiterte ((S.324))

*Persönliche Anmerkung:

Es ist in Ordnung, wenn Biografen sich aus ihren Biografien heraushalten, wenn also Andrea Wulf ihre persönlichen Ecuador-Erlebnisse nicht in den Humboldtbiografiehauptteil einflicht; Norman Sherry über Graham Greene ist ein Paradebeispiel für zu geschwätzige Biografen.

Andererseits, man stelle sich vor, Öko-Aktivist, Meisterschreiber und Mehrfachliterarisierer prominenter Entdecker-Lebensläufe T.C.Boyle hätte auch über Alexander von Humboldt eine fiktionalisierte Biografie geschrieben – ein Fest, selbst wenn es zu Liebesdingen nicht viel Belegtes gab (aber vielleicht umso mehr zu erfinden). Offenbar mit erheblichen dichterischen Freiheiten literarisierte Daniel Kehlmann Alexander von Humboldt im Roman Die Vermessung der Welt.

Assoziation:

Bücher bei HansBlog.de:

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 

Nach oben scrollen