Roman Kritik: Vladimir, von Julia Jonas May (2022) – 7/10

Der Buchtitel “Vladimir” führt in die Irre: Der Roman handelt überwiegend nicht von den Gelüsten einer verheirateten 58-Jährigen Professorin nach dem gut gebauten, verheirateten 40-jährigen Kollegen russischer Abstammung – und auf den letzten 18 Seiten erscheint Vladimir nicht mehr.

Es geht mehr um Wokeness und political correctness an einem kleinen US-College, um die Statthaftigkeit erotischer Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen oder Altersgruppen – in verschiedensten Konstellationen, aber immer Weiß-Weiß, wie eine farbige Studentin bitter anmerkt (Julia Jonas May packt pflichtbewusst Rassendiskriminierung drauf).

Die Spannung im Roman entsteht zunächst weniger aus der vermeintlich unstatthaften Beziehung zwischen Ich-Erzählerin und Vladimir, sondern aus der möglichen Ahndung unstatthafter Beziehungen zwischen Proff und Studentinnen und der Haltung weiterer Bezugspersonen dazu. Richtig spannend wird es erst mit dem Kriminalfall gegen Ende.

Das Bestiarium:

Der Roman spielt in verwickeltem, woken US-College-Milieu:

  • Die verheiratete Ich-Erzählerin und Literaturdozentin, 58, jiepert nach ihrem gut gebauten Kollegen Vladimir, 40, Literaturdozent;
  • sie wird von ihrer lesbischen Tochter Sidney, Juristin, 29, verflucht, weil sie die Affären ihres Mannes tolerierte; Sydney hat auch Stunk mit ihrer Partnerin
  • auch Studentinnen raten der Ich-Erzählerin, ihren Mann fallen zu lassen; sogar Kollegen wollen sie suspendieren;
  • John, 63, Literaturdozent,  Ehemann der Ich-Erzählerin, ist  vom Job suspendiert, weil er wechselnde einvernehmliche Beziehungen mit Studentinnen hatte; als rund 20-Jähriger hatte er eine Affäre mit einer Mitt40erin;
  • Vladimirs Frau Cynthia Tong hat einen Selbstmordversuch hinter sich (“I’m kind of a fuckup”) und darüber geschrieben, und deshalb bekam ihr schöner Vladimir angeblich den Job am College; ihr Mann möge bitte auch mit anderen Frauen schlafen, wolle aber nicht, ja, “he barely wants to fuck me”

In einer ganz unakademischen Welt wuchs John auf – mit den

masculine forces of the Midwest, by men who loved fighting and hunting and loud shows of ignorance

Erzählton:

Die Ich-Erzählerin redet eingebildet und schmückt etwas mehr aus als nötig, ist dabei immer etwas zu nonchalant und gebildet. So auch bei den erlesenen Dingen, die sie kocht, aufstellt und anzieht. Die Protagonisten reden meist über Literatur, Geistiges, Uni-Kram; stumm grübeln sie indes über Aussehen und Status. Das Vokabular:

TA, slut walk, coaster, solipsistic, MFA, high school PE, concupiscent commingling, Title IX, Seconal, the sign of the hex, persnickety, corporeal beauty, supplication, gamine, SAT students, Adderall

Diesen Duktus nennt die Ich-Erzählerin ”overeducated liberalese”. Doch bei aller zur Schau gestellten Kultiviertheit: das wohl meist genutzte Wort im Buch ist “fuck” – als Schimpf- und als Verrichtungswort:

…they could go fuck themselves. My brain was employing a liberal use of fucks. There was no fucking way I would ever stop teaching my class until they fucking dragged me out of there with campus security. That it was completely fucking illegal to try…

Nur für “masturbate” kennt die sonst so gewandte Ich-Erzählerin scheint’s nix Vierbuchstabiges (und ich kenne nur das engl. Original, nicht die Eindeutschung).

Unkreatives Schreiben:

Dass Autorin Julia Jonas May kreatives Schreiben unterrichtet und nichts als das akademische Leben kennt (vielleicht noch Kochrezepte), kann man sich bei diesem Akademiker-Roman gut vorstellen. Die Ich-Erzählerin sagt selbst: 

Our lives were, as writers, essentially little by nature. Writers have to lead little lives, otherwise you can’t find time for writing.

Andererseits erwähnt sie ausdrücklich “writers who did things”, wie Hemingway oder Norman Mailer (kursiviert wie im Buch).

Doch es verwundert, dass sie den Roman mit exzentrischen und immer neuen Konstellationen überfrachtet und teilweise zu allgemein redet – sie ignoriert den Lehrsatz “show, don’t tell”: speziell der Ehemann John bleibt über lange Strecken blass und wird oft verallgemeinernd  von seiner Frau beschrieben.

Theaterfachfrau Julia Jonas May (die Corona-bedingt ein Theaterprojekt verwarf und einen Roman begann) liefert zudem wenig Dialog und viel allgemeinen Monolog. Dieser Monolog klingt jedoch ebenso erlesen wie all die Kleidung, Deko, Literatur und Speisen der Ich-Erzählerin. Die Dialoge dagegen funkeln nicht, zeigen weder Esprit noch Botschaften zwischen den Zeilen.

Schreiben übers Schreiben:

Die Ich-Erzählerin schwärmt vom Roman, den ihr Lover in spe Vladimir Vladinski veröffentlichte, und beschreibt dessen Eigenschaften und Wirkung ausführlich, ist zu Tränen gerührt. Sie zitiert jedoch nie Vladinskis fiktiven Roman oder wird sonstwie konkret – so wie die meisten Romanen über Schriftsteller keinerlei Kostproben der fiktiven Schreiberzeugnisse liefern.

Auch ihr eigenes Romanprojekt beschreibt die Ich-Erzählerin nur sehr allgemein, ohne Andeutung der Handlung – lehrt Autorin Julia Jonas May das so in ihren Kursen zum kreativen Schreiben?

Weniger plausibel:

  • Sydney, die Tochter des Ehepaars im Zentrum des Romans, lebt einige Wochen bei ihren Eltern, obwohl sie ihren Vater wegen seiner angeblichen “Power rapes” erklärtermaßen verachtet und obwohl sie auch ihre Mutter verachtet und vulgär beschimpft, weil die bei ihrem powerrapenden Vater bleibt.
  • Sydney und die Ich-Erzählerin verfolgen im Auto das Auto des Vaters, um mehr über seine allabendlichen Ausfahrten zu erfahren – das ist kompliziert, und seit 2021 gab es Airtags von Apple, und schon früher andere kleine Geräte, mit denen man ein Auto leicht online tracken konnte – Ich-Erzählerin wie Tochter sind erfahren genug, um so etwas einzusetzen. Eine Figur legt ein Handy ins Wasser, um es für alle erkennbar zu beschädigen; doch schon ab ca 2016 waren die meisten Handys wasserfest nach IP 67 oder 68; eine Person bedauert, ein wichtiges Dokument nur auf dem Laptop zu haben und nicht auch auf USB-Stick oder als E-Mail an sich selbst – doch zum Zeitpunkt der Handlung war Cloud-Speicherung etwa bei Dropbox, Google oder Microsoft längst üblich;
  • John, der Mann der Ich-Erzählerin, hatte laut Roman lauter Studentinnen im Bett und womöglich in der erzählten Jetztzeit auch Cynthia Tong, die schöne junge Kollegin und Vladimir-Gattin. Zugleich beschreibt die Ich-Erzählerin ihren 63jährigen Mann als verfallend, unachtsam, teils widerwärtig – ein Erfolg bei Frauen einschließlich der Ich-Erzählerin scheint undenkbar.

Assoziation:

  • Der zweite fiktive Roman der Ich-Erzählerin erhielt schlechte Kritiken; während gleichzeitig, wie es im Roman heißt, die Hansblog-Ikonen Alice Munro und Lorrie Moore Erfolge feierten; vermutlich zu recht
  • Sowohl John, der Ehemann der Ich-Erzählerin, als auch Vladimir, Lover in spe der Ich-Erzählerin, erinnern mich in Details an den gefallenen Biografen und Literaturdozenten Blake Bailey
  • Von einer Autorin, von Miranda July, stammt auch der Roman Auf allen Vieren; auch darin gelüstet es eine verheiratete Ü40erin nach einem deutlich jüngeren Mann und sie masturbiert dabei
  • Julia Jonas May über ihr Konzept beim Schreiben (Englisch)
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