Fazit:
David Nicholls schreibt wie immer reizvolle Dialoge mit Zwischentönen und feinem, verblüffendem Humor. Gelegentlich liefert er zu viele geografische und andere Details.
Die Handlung ist lange unspektakulär, doch voll amüsant heikler Momente und relativ realistisch. Drama gibt es in den ersten drei Vierteln nur per Rückblende auf Konflikte in der Vergangenheit; umso mehr Spannung entsteht im letzten Teil. Weiße mittelalte Mittelschicht-Cis-Menschen mit ihren Kümmernissen von Liebe bis Tod stehen im Mittelpunkt, ohne dass Nicholls je zum Prediger wird oder schwülstige Symbole auffährt.
Die ständig zwischen den Hauptfiguren wechselnde Erzählperspektive macht Spaß, auch wenn Nicholls zu selten ein einziges Ereignis aus zwei Blickwinkeln schildert – wenn doch, dann mit interessanten Missverständnissen; die vielen Perspektivwechsel nach jedem kurzen Kapitel stören auch den Lesefluss.
Die unterschiedlichen Seiten der Hauptfigur Marnie wirken zu disparat. Die Geschichte scheint ungeniert auf ein allzu typisches RomKom-Ende hinauszulaufen – doch Drehbuchprofi David Nicholls hat ein Herzschlagfinale in petto. Nicholls schreibt so routiniert gekonnt, kalkuliert und durchgeplottet, dass es fast stört.
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Unrealistisch:
Unrealistisch erschien mir, dass Marnie und der toxische Neil jemals heirateten; dass sich mehrere einander Fremde, berufstätig, teils Londoner, auf eine mehrtägige Wanderung fern von zu Hause einlassen und diese teils spontan um Tage verlängern; dass diese Wanderung mit viel Energie von einer stellvertretenden Schulleiterin und Mutter organisiert wird, sicher beruflich und privat gut ausgelastet, die dabei auch noch ihre Singlefreunde verkuppeln will.
Vor allem Hauptfigur Marnie wirkt teils unrealistisch und wie eine beliebig formbare Figur des Autors: Smartphonebesitzerin und versierte Laptopnutzerin Marnie, 38, kauft für eine geführte Wanderung über angelegte Wege ungefähr im Jahr 2022 einen Kompass – später Requisite für ein paar Witze, und Michael ist der klischiert allwissende Expeditionsleiter mit GPS-Aparillo. Marnie erscheint meist mausgrau bis mild autistisch, flucht aber gelegentlich wild oder inszeniert sich als erotische Verführerin; sie redet aus dem Nichts filmreif wie eine Figur von David Nicholls.
Aufkeimende Liebe und plötzlicher Tod begegnen sich in einer Szene allzu konstruiert. Und nach den bewegenden Schlusszeilen des Romans – die der Leser fiebrig erwartet hatte – bringt Nicholls ein paar kleinkarierte geografische Hinweise, die alles kaputt machen. Warum lässt David Nicholls, nachdem er über 348 Seiten seine dramaturgische Meisterschaft unter Beweis gestellt hatte, nicht einfach den Text wirken?
Achtsame Print-RomKom:
Mehrfach deutet der Autor eine körperliche Verletzung und Krankenhaus an (“the scar on his jaw“); dem Leser gruselt es schon vor der unvermeidlichen Rückblende zur Verletzung, sicherlich dann auch seelisch.
Nicolls nennt das Rezept für seine achtsame Print-RomKom selbst:
Humour could sometimes mask deep hurt
Die Protagonisten juxen in originellen Einzeilern über die schmerzhaften, wörtlich, Fußtritte des Lebens, und wir sind ja so bei ihnen. Sie reflektieren sogar ihr eigenes, verdrängendes Witze-reißen über „those regrets and humiliations“:
In the absence of straight talk, they’d have to persevere with irony, hints and double meanings
Auch das eigene Sterben thematisieren sie, ebenso urbane Wohnungsnot und Jobfragen – alles ist dabei.
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Haut wie glattgestrichenes Geschenkpapier:
David Nicholls findet viele attraktive Formulierungen, fast klingt der Stolz des Autors mit: die Haut des 42jährigen Protagonisten erinnere an gebrauchtes, glattgestrichenes Geschenkpapier; in einer trostlosen Landpension könne man höchstens vor der Beerdigung eines Verwandten übernachten. Nicholls bringt aber zu viele obligat originelle Vergleiche, und ein Absatz auf Seite 86 enthält gleich dreimal das Wort „like“. Die Überschriften der vielen kurzen Kapitel klingen mitunter gesucht cool.
Seltsam: Hauptfigur Marnie ist eine pingelige freiberufliche Lektorin, die auf vernünftige Sätze achtet. Dann aber sagt Michael, der Lehrer, unwidersprochen, er wandere
in a circle usually. I park the car. I walk away from the car. When I’m far enough away, I walk back to the car.
Man kann wohl nicht von einem „circle” reden, wenn er vom Auto weg und dann scheinbar auf selben Weg zum Auto zurückgeht. Die deutsche Fassung sagt dort „im Kreis „, also ebenso fragwürdig. Die Hauptwanderung im Buch geht stets in eine Richtung und kehrt nicht zurück.
Persönlich vom Rezenten:
Der Roman handelt von zwei mild autistischen Eigenbrötlern, beide kinderlos geschieden, die Frau freiberuflich prekär im Homeoffice, alles wie ich, selbst dies:
married nearly three years… together three before that
Nicholls kleidet Situation und Empfinden der beiden sensiblen Singles in schöne Sätze:
For Cleo, the solution to a problem lay in the presence of other people, while Michael depended on their absence… ideally, the other person would cancel first, but she was quite prepared to take the initiative… Private, intimate, a book was something she could pull around and over herself, like a quilt… The awkwardness of open conversation with adults was something she took for granted… in the presence of others, he’d been too concerned with their welfare and happiness, what to say and how to be… apart from bar staff and receptionists, he would not speak to another human being for eight days… was her company a pleasant surprise or was she the party guest who won’t go home?… He still felt the pull of solitude… in the years of the great seclusion, she’d found herself wishing for the darkness so that she could justify going to bed…
Sogar die Kulisse beim Wandern ist ähnlich gruselig wie bei mir in der Gegend:
acre after acre of lousy Christmas trees, in some areas the firs lying rotten and desolate as if trampled by some giant. On and on it went
Assoziation:
- Schon im Roman Drei auf Reisen inkorporiert David Nicholls zu viel Wikipedia-Länderkunde, und auch hier in Zwei in einem Leben geht er zu tief in uninteressante Details wie Wanderausrüstung und Google Maps (insgesamt weniger aufdringlich als in Drei auf Reisen). Weitere Parallelen zwischen den zwei Romanen: eine kürzere Reise mit vielen Rückblicken in die Vergangenheit; kurze Kapitelchen – alles typisch für den mittelalten Nicholls
- Gern ist man angeschickert, wie in David Nicholls’ Roman Zwei an einem Tag
- Der wunderliche deutsche Titel Zwei in einem Leben spielt an auf Nicholls’ deutsche Titel Drei auf Reisen und Zwei an einem Tag; statt „Zwei in einem Leben“ sagt man vielleicht lieber „Zwei auf einem Weg“?
- Der dialogisch angedeutete Analverkehr (“we did… all three”, nicht meine Lieblingsstelle) erinnert an einen ähnlichen Wortwechsel im Film “Bridget Jones – Am Rande des Wahnsinns” (2004)
- Ein Kapitel heißt Hotel du Lac wie der Roman von Anita Brookner; Zitate von und Anspielungen auf Jane Austen; im Dankwort bedankt sich David Nicholls allen Ernstes bei Dolly Alderton ”for conversation and advice“
- Das Herunterleiern von 80er Songs in Pubs oder per Handy wirkt wie eine etwas abgeschmackte Stimmungskanone, etwa wie in Brigitte Glasers Rheinblick
- Herzenswärme, Melancholie und teilweise Scheitern ein wenig wie bei Anne Tyler, entfernt vielleicht Thommie Bayer
- Hauptfigur Marnie erinnert von fern an Bridget Jones, ist jedoch erwachsener und weniger mannstoll
- Die Annäherung zwischen Mann und Frau mit mehrfach wechselnder Perspektive schildert auch Nora Haddada im Roman Blaue Romanze (2025)
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