Romankritik: Rheinblick, von Brigitte Glaser (2019) – 5/10

Die Dialoge klingen hölzern, die Verwicklungen schwer nachvollziehbar, ebenso die Zufälle. Und sprachlich ist das schlechter als eine buchmarktüblich lieblose Übersetzung.

Dabei hat Brigitte Glaser reizvolles Personal: eine Kneipenwirtin, einen Taxifahrer-Studenten, Willy Brandt im Krankenzimmer mit Logopädin und Horst Ehmke, in Nebenrollen Helmut Schmidt und Schäuble. Auf den letzten Seiten listet Brigitte Glaser ihre historischen Quellen auf.

Noch mehr wohlige 70er-Jahre-Nostalgie bringen viele Bandnamen und Classic-Rock-Titel, das Buchende wiederholt den Songreigen sogar als “Soundtrack”, dazu die immer gleichen Kinofilme (keine Werbesprüche, kaum Produktnamen). Das wirkt so muffig nostalgieselig wie diese Oldies-Reigen im WDR-TV.

Die Figuren sind noch überschaubar und über weite Strecken gemütlich, dazu kommen etwas rheinischer Dialekt und versöhnliches Politisieren, verteilt auf Dutzende Mikrokapitel, die zwischen zwei, später drei Hauptpersonen hin und her wechseln, dabei selten cliffhängend. Fast linear erzählt Brigitte Glaser, mit überschaubaren Rückblenden und Schwenks.

Schokoladenpudding:

Eine Hauptfigur glaubt:

Die meisten Menschen liebten Schokoladenpudding

Vielleicht glaubt das auch Romanautorin Brigitte Glaser und schrieb deswegen ein Buch, das glatt und schwabbelig ist wie ein Pudding – ebenso wenig nahrhaft und aufbauend.

Die nostalgische Behaglichkeit muss  gebrochen werden, noch bevor der Hauptfall Konturen annimmt. Brigitte Glaser fährt auf: häusliche Gewalt; schwanger bei zeugungsunfähigem Mann; mutmaßliche Vergewaltigung und gewaltsamer Tod einer anonymen jugendlichen Patientin.

Schon auf den ersten Seiten deutet die Autorin – plump – Geheimnisse und Tragödien an, deren Auflösung sich das Publikum nun erlesen muss. Die WG mit Betonkommunist, Eso-Psycho-Tussi und schürzenjagendem Taxifahrerschluffi wirkt konstruiert und unrealistisch. Und “Zufälle gab’s”, denkt sich eine Figur; tatsächlich braucht Brigitte Glaser zu viele Zufälle, um ihre drei zentralen, zunächst unverbundenen Hauptfiguren

  • Jungjournalistin Lotti,
  • Wirtin Hilde und
  • Logopädin Sonja

auf ein und denselben Fall anzusetzen – dennoch geriet das 400-Seiten-Buch zu lang.

Nur Frauen also in den Hauptrollen. Männer sind bei Brigitte Glaser oft schmierige, beziehungsunfähige Wichser:

Der eine so fett, dass sein Wanst über den Hosenbund quoll… der Dicke schob sich das Gemächt zurecht. Sie hatten schon einiges gebechert, der Atem des Fetten dampfte… der Dürre mit dem ältlichen Gesicht eines Priesterbübchens ließ sein blechernes Lachen durchs Taxi scheppern. Aufgeblasen mit trunkenem Mut wollten sie es in Köln richtig krachen lassen. Ihre Blicke so voller Gier…

Indes kein Schmieri ist im Roman die Nebenfigur Willy Brandt, den die Autorin laut Schlusswort bei entsprechendem Alter “auf alle Fälle” gewählt hätte.

Der Kies knirschte unter dem Knautschlack:

Die Sprache klingt für mich anbiedernd jovial, vielleicht wie ein Regionalkrimi oder deutsche Comedy:

Es ging Max auf den Senkel… wahnsinnig tollen Chanson…

Dann aber Grusel-Dativ-e, “die Hand zum Gruße”

Mich schreckt das ab. Der orange Aufkleber “Spiegel-Bestseller” ist  wohl eine Warnung.

Brigitte Glaser türmt Adjektive, Alliteration und allerlei Anderes:

Der Kies knirschte unter dem Knautschlack, am Wegrand hoben kahle Platanen dürre Äste in den grauen Himmel… ihr eine struppige Strähne aus dem Gesicht zu streichen… nur, dass sie nur zu zweit waren… die klebrigen Fangarme der Politkkrake Bonn… die Knöpfe der Schlafanzugjacke aufzudrehen

Didaktisch wertvolle Dialoge:

Kein einziger Dialog klingt lebensecht, schon gar nicht filmi pfiffig oder zwischentonreich vielsagend. Viele Dialoge klingen wie platte Typisierung oder didaktisch wertvoll; Brigitte Glaser verbirgt ihr ausführliches Quellenstudium nicht, etwa in dieser wörtlichen Rede:

”…nach Bielefeld an die neu gegründete Reformuniversität, Helmut Schelsky hat dort das Zentrum für interdisziplinäre Forschung maßgeblich aufgebaut. Eine interessante Arbeit, auch wenn es intern harte Auseinandersetzungen gab… ich habe mir in den letzten Jahren als Bildungsexperte durch verschiedene Forschungsprojekte einen Namen gemacht und kenne mich im politischen Geschäft aus…”

Im Roman erhält die Biografie Willy Brandts gut zwei Seiten, verteilt auf mehrere Kapitel. Interessant: Während Glaser den Roman im Präteritum erzählt, wechselt sie bei Brandts Lebenslauf ins Präsens. Noch mehr Staatsbürgerkunde folgt im Glossar am Buchende.

Im Gegenzug folgt Kitsch, Triggerwarnung:

Und er küsst so, wie sie noch keiner geküsst hat… sie sind saugend und drängend, sie nehmen ihr die Luft, sie schalten den Verstand aus. Sie denkt, das ist ein geschenkter Tag, nimm alles mit, morgen ist es vorbei. Sie will die Zeit anhalten, aber die Zeit rast… eine Nacht, nur eine einzige. Koste es was es wolle.

Lecker Kölsch:

Mehrfach heißt es “lecker Kölsch “, sagt man das wirklich? Der inkonsequent eingesetzte kölsche Dialekt klingt nicht stimmig, in dieser wörtlichen Rede hat Glaser schlicht vier “n” gestrichen:

”… Im Gegensatz zu euch muss ich arbeite. Ich kann mir nicht die Nächte um die Ohre schlage… soll ich euch ein Taxi rufe?”

Der kommunistische Student Kurt doziert wie gedruckt, redete (nicht schrieb) man wirklich so schematisch und holzköpfern am WG-Tisch:

”die politische Arbeit ist wichtig… beim MSB Spartakus hat gestern ein Genosse aus Ost-Berlin über die Mobilisierung der arbeitenden Massen referiert… Wir müssen in die Betriebe gehen. Es geht um unsere Solidarität mit den Werktätigen… große Betriebe und die staatliche Bürokratie. Die muss man aufmischen und von innen zersetzen.”

Viele sprachliche Ungenauigkeiten nerven mich – vielleicht kein falsches Deutsch, aber man hätte klarer und eingängiger formulieren können. Hier ein Bruchteil meiner Beschwerden:

… bei ihr konnte man sich ausheulen oder sich fünf Mark von ihr leihen… in der Küche schmurgelte ein Kaffeerest in der Kanne… sobald denen ein paar Regentropfen auf die Frontscheibe träufelten… Wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert

Dazu einzelne Logikfehler: der Satz

Hätte sie nicht schon vor zwei Wochen per Brief gewählt, Sonja hätte es vergessen.

müsste lauten:

Sie hatte schon vor zwei Wochen per Brief gewählt, darum hatte Sonja es fast vergessen

Und vereinzelt Grammatikfehler in meiner Ullstein-Taschenbuchausgabe:

Nicht dass er alle Abgeordnete namentlich kannte ((S. 101f))… Unser neuer Bundestagsabgeordnete Dr Schäuble ((S. 250))…

Seite 411 (Schlusswort):

…der entsprechende Brief an Wehner, von dem im Buch die Rede ist, hatte dieser tatsächlich “vergessen”.

Verblüffend: das mehrseitige Dankwort (nicht Schlusswort) am Buchende klingt besser als der rund 400 Seiten lange Roman.

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