Buchkritik: Was die Dörfer einst zusammenhielt, von Ulrike Siegel (2022) – 7/10

Ulrike Siegel Bauernhof

18 Dorfbewohner aus Deutschland, geboren etwa zwischen 1951 und 1964, erzählen in 19 Geschichten von ihren frühen Kindheitsjahren auf dem Dorf – oder von ihren Großeltern, dann geht es bis in die 1930er Jahre zurück. Oft geht es um Bauern, aber auch um die arme Schneiderin Omi Anni, den fahrenden Höker Alwiss und die bescheidene Ermfriede.

Die Geschichten beginnen teils idyllisch mit einer scheinbar autarken Dorfgemeinschaft. Vereine, Dorfhändler, Wirtschaften und Kirchengemeinden florieren.

Doch dann öffnen im Nachbarort Supermarkt und Fabrik; die Dörfler kaufen dort, Leute arbeiten dort und verpachten ihre Felder an irgendwen. Und der örtliche Kramerladen, den ein eigenes Kapitel im Buch feiert, muss schließen; auch Mietgefrierfächer gibt es bald nicht mehr. Und

Höfe, die sich mal ein Telefon teilten, ((haben sich)) heute nichts mehr zu sagen

Es gibt auch ein Reihendorf ohne jeden Ortskern, in dem teils Vertriebene angesiedelt wurden. Über einen anderen Ort im Süden:

Im Dorf selbst gab es keine Vereine…Streit und Neid waren an der Tagesordnung…man schaut sich nicht an, wenn man sich trifft. Und das kann eine ganze Generation andauern.

Amazon-Werbelinks: Dörte Hansen | Walter Kempowski | Ulrike Siegel

Kinder müssen überall mit anpacken und haben wenig Freizeit. Ein typischer Satz:

Das Singen war in unserer Familie ein stets erlaubtes und kostenloses Vergnügen – konnte man doch dabei verzögerungsfrei weiterarbeiten.

(Fußball ist weniger gern gesehen – Zeitverschwendung am helllichten Tag.)

Diskriminierend: nur eine Geschichte liefert ein Mann. Nur zwei Geschichten im Buch stammen aus Ostdeutschland, samt LPG-Formalien; die anderen 17 Geschichten von 16 Interviewpartnern berichten aus der gesamten alten Bundesrepublik mit leichtem Schwerpunkt auf den nördlichsten und südlichsten Bundesländern.

Die Geschichten sind etwa 5 bis 17 Seiten lang, die meisten Geschichten wohl weniger als 10 Seiten. Bräuche und vor allem Speisen lernt man in den Dialekten der Republik(en) kennen, von “Pingelsöppke” und “Kinnertön” bis “Skandal in Schnut”.

Kritik:

Es gibt interessante Einblicke, aber oft werden Dinge nur angedeutet, die man gern vertieft hätte, vor allem, wenn der Text das Vergangene verklärt. Ich vermisse Tiefe und Schärfe, auch wenn Misstöne nicht ausgespart werden. Ich hatte immer wieder den Wunsch, die Lektüre nicht abzubrechen, aber mit tiefschürfenderen ländlichen Kurzgeschichten etwa von Alice Munro zu alternieren.

Die meisten Geschichten lassen sich leicht lesen und klingen sehr ähnlich, auch wenn sie von 18 verschiedenen Verfassern stammen. Die redigierende Hand von Landwirtschaftsmeisterin Ulrike Siegel, Jahrgang 1961, wird überwiegend deutlich, der Sound ihrer früheren Bücher erklingt erneut.

Zu viele Autoren indes wollen ihre ganze Jugend in die jeweils fünf oder zehn Seiten packen, samt Elternhaus, Schule, Kirche, Jahreskreis und mehreren Jahrzehnten, manchmal mehr als eine Seite ohne Absatz (z.B. Seite 72).

Dann erklingen Banalitäten wie auf Seite 198:

Die Tage waren gefühlt mit täglichen Pflichten auf dem Hof und den Arbeiten auf den Feldern im ewigen Kreislauf der Jahreszeiten. Jeder bekam seine Aufgaben und musste anpacken. Ohne die Mithilfe der ganzen Familie ging es nicht. Alle diese Dinge waren notwendig, für uns Kinder und Jugendliche aber oft auch lästig. Ansonsten gab es nicht viel.

Eine andere Geschichte wirkt zu lyrisch und vielleicht von literarischen Ambitionen entstellt; ich konnte sie nicht lesen, mein Auge und meine Aufmerksamkeit flutschten weg.

Hier fehlt die redigierende Hand, vielleicht ließen sich die Verfasser nicht einhegen.

Besser sind Geschichten über ein einzelnes Ereignis oder eine Einzelperson: Kapellenfest,  Hausbesuch des Pastors, Oma Anni,  Vorbereitungen zum Konfirmationsfest, Schlachtefest beim ersten Frost.

Amazon-Werbelinks: Dörte Hansen | Walter Kempowski | Ulrike Siegel

Eine einzelne Autorin, geboren 1957, verwendet die Wörter “Event” und “Livemusik” – sie stechen seltsam heraus in dem sonst so altmodischen Buch. Eigentlich könnte man bessere Texte erwarten, denn laut biografischen Notizen am Buchende gehören zu den Autoren unter anderem “Buchautor, Entertainer”, “Zimmerer und Theaterer” (sic), “Diplom-Journalistin “, “Buchautorin”, “Autorin”. Fast alle Beitragenden scheinen Akademiker zu sein.

Ein paar Tippfehler kommen hinzu: “Schwerster Hermine”, sic, S. 38; “für der Kramerladen”, sic, S. 11; “Städterin mit Vorurteilen zum Dorfleben”, sic, S. 145; “mit eine Jauchepumpe”, sic, Seite 183; uneinheitlich “Hohlblocks”, “Houlblocks” (ab Seite 197, lokaler Bandname).

Assoziation:

  • die sehr ähnlich klingenden früheren Ulrike-Siegel-Bücher (die jedoch üppiger ausgestattet waren)
  • verschiedene historische Dorf-Bücher von Oskar Maria Graf und Lena Christ; beide schreiben tiefer und schärfer als Ulrike Siegels Erzähler
  • nicht die Dorfgeschichten von Ludwig Thoma; er textet zu boshaft, um bei den Semi-Idyllen von Ulrike Siegel assoziiert zu werden
  • Ein Werbetext auf der U4 zitiert aus Geert Maks hervorragendem Dorfsachbuch Wie Gott verschwand aus Jorwerd; das ist aber eine andere Liga als Ulrike Siegel
  • Altes Land von Dörte Hansen, wegen der Veränderung des Dorflebens
  • Heile Welt, der 1960er-Dorfroman von Walter Kempowski
  • Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie. Er erklärt auch, warum  Singen den Kindern erlaubt war, Fußballspielen aber nicht: Das Gekicke hielt die Nachwuchskräfte von der Arbeit ab
  • Amazon-Werbelinks: Dörte HansenWalter Kempowski | Ulrike Siegel

Persönliche Erklärung:

Ich las Siegels Geschichten abwechselnd mit den Kurzgeschichten aus dem Buch Glaubst du, dass es Liebe war von Alice Munro. Das war seltsam: Wechselte ich von Munro zu Siegel, änderte sich das Thema kaum – hartes Landleben in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Manchmal dachte ich, nanu, warum ist das denn jetzt Deutsch; ich hatte noch nicht ganz verinnerlicht, dass ich nicht mehr bei Munro, sondern schon wieder bei Siegel las.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 

Nach oben scrollen