Sachbuchkritik: Ein Hof und elf Geschwister, von Ewald Frie (2023) – 7/10

Ulrike Siegel Bauernhof Dorf

Ewald Frie schreibt eher allgemein über Veränderungen in der münsterländischen Landwirtschaft seit 1945 (in der Buchmitte mit einer ermüdenden Rückblende bis ca. 1817), gestützt auf ausführliches Quellenstudium. Seine sozialhistorischen Erkenntnisse garniert Frie mit Erfahrungen der eigenen Familie samt Zitaten seiner zehn Geschwister, die aus unterschiedlichen Jahrzehnten berichten.

Aber die Frie-Geschwister treten kaum als Individuen hervor, sind eher Stichwortgeber, keiner bekommt einen Schwerpunkt, sondern wird je nach Thema zitiert oder auch nicht. Besonders selten erwähnt der Autor, Jahrgang 1962, in der ersten Buchhälfte sich selbst; er konzentriert sich zunächst auf die älteren Geschwister, die mehr aus den 1950er und 1960er Jahren erzählen können. Aber auch später gesteht Frie sich keine Sonderrolle zu, meidet jeden Hauch müffelnder Autofiktion.

Manchmal verallgemeinert der Autor sogar ohne ein einziges Zitat von Geschwistern oder Eltern, etwa beim Berufsanfang aller elf Kinder:

In der Regel gelang der Einstieg gut…. Auch hier bewährte sich, dass wir das Arbeiten gelernt hatten und in Gruppen zurechtkamen. Konflikte gab es, wenn… weil wir Streit zwar nicht mochten, ihn aber ausfochten, wenn…

Also auch hier: reflektiert, analytisch, zurückgenommen.

Hermann, Kaspar, Wilhelm, Mechthild, Katharina, Gregor, Paul:

Die fiktiven Namen der Geschwister und ihre Geburtsjahrgänge konnte ich kaum auseinanderhalten – Hermann, Kaspar, Wilhelm, Mechthild, Katharina, Gregor, Paul und so weiter, sie gewinnen keine Kontur. Manchmal dachte ich, um die Zitate einordnen zu können, sollte Frie seine Geschwister nicht mit all diesen Namen, sondern nur mit Geschlecht und Jahrgang anführen, z.B. als M1944 oder F1961 (der Anhang listet alle Namen mit Jahrgang).

Am meisten Persönlichkeit erlaubt Frie der Mutter, eine konservative, sozial engagierte, religiöse Frau, die ihren Bereich gut managt, ihre Töchter und Söhne laut Autor gleichermaßen wenig einschränkt, wenn irgend möglich gleich behandelt, in ihren  jeweiligen Interessen meist fördert, auf Bildung höchsten Wert legt und gut gerüstet ins Leben entlässt.

Doch selbst den überraschenden Tod der Mutter berichtet Frie so nüchtern wie alles andere, einschließlich seiner eigenen Rolle.

Ausstattung:

Der ausführliche Anhang listet allerlei Wissenschaftliches und Kirchenbücher; direkt im Haupttext erwähnt Ewald Frie nur und das Landwirtschaftliche Wochenblatt für Westfalen und Lippe sowie Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga. Auf der Impressumseite heißt es stolz:

Mit drei Abbildungen

Nicht viel, aber diese drei Bilder stehen für drei wesentliche Phasen, und Frie kommt mehrfach an ganz verschiedenen Stellen im Buch auf die Gruppenfotos zurück. Für eine Karte reichte es nicht mehr, auch nicht für ein Autograf der interessanten autobiografischen Skizzen von Mutter Frie; das wäre wohl zu persönlich. Die Liste der anonymisierten Geschwister mit Geburtsjahr, doch ohne Werdegang ist zu knapp.

Ewald Frie beginnt mit einem unübersichtlichen Überblick der 13-köpfigen Gesamtfamilie; vielleicht hätte er besser mit einzelnen Geschwistern angefangen und den Kreis langsam größer gezogen – aber er erzählt keine personenzentrierte Geschichte. Beim Gesamtüberblick zu Beginn verwirrten mich Sätze wie

Hermann wurde im Zweiten Weltkrieg geboren, Martina knapp zwei Monate vor der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler. Bei Hermanns Geburt war der Vater mit 34 Jahren etwas älter, und die Mutter mit 22 Jahren deutlich jünger als in dieser Zeit üblich.

Anschließend schildert Frie detailliert, aber ohne Karte, die Lage des Hofes und die weitere Umgebung. Auch das hätte ich lieber erst später gelesen (besser noch auf einer Karte gesehen), zugunsten eines persönlichen Einstiegs mit einzelnen Akteuren.

Das Verhältnis von Fisch und Sauce:

Frie schreibt sehr diskret, benennt seine Geschwister um, sagt nichts über Liebe, Sexualität, Selbstbefriedigung. Auch über das Kennenlernen der Eltern und eventuelle Familienplanung gibt es fast nichts (stattdessen eine Aufzählung, welche Vorfahren wie viele Kinder hatten; viele von Fries nacherzählten Quasi-Statistiken könnte man in Tabellen und Diagrammen wiedergeben).

Wenig hören wir über innerfamiliäre Gruppendynamik. Interessant jedoch die Abschnitte über das Auftragen von Kleidung und das Teilen von Essen bei Tisch:

Alle würden etwas bekommen, das wussten wir. Aber das Verhältnis von Fisch und Sauce würde sich ungünstig entwickeln

Etwas mehr erfahren wir über Religiöses; interessant: ein Bruder besucht ein erzkirchliches Internat und distanziert sich später deutlicher von der Kirche als andere Geschwister. Politik spielt im Buch und in der Familie wohl nur eine kleine Rolle, man wählte ”immer CDU” und freute sich sehr über Willy Brandts Bafög – alle bekommen Höchstsatz und machen gute Ausbildungen.

In der Familie und in der Gesellschaft:

Eigentlich behandelt Ewald Frie zwei getrennte Themen in einem Buch:

  • das Leben einer 13-köpfigen  Bauernfamilie mit wenig Geld;
  • Landwirtschaft im Münsterland seit 1945 und das Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Interessant: der Hof Frie hatte einen “Schaugiebel”, der nach einer Verlegung der Zufahrt ”nicht mehr Recht zur Geltung” kam, weil Besuch sich nun von der Traufseite her näherte.

Sprache:

Das gedeutschersachbuchpreiste Werk klingt eingängig, homogen, schwafelfrei. Ewald Frie rundet seine Monografie stimmig ab mit der Rückkehr zum Einstiegsmotiv und einem unaufdringlichen Resümee.

Einzelne Seiten und Sätze wirken glanzlos und gelegentlich umständlich. So sagt der Autor manchmal etwas wie ”die Schwester meiner Mutter” (Seite 94), wo ”Tante” genauso gut passte.

Professor Frie erzählt die soziale Entwicklung in der BRD, in der Landwirtschaft und in seiner Familie analytisch und interessant – ”171 Seiten Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Familiensinn”, so Frie im Nachwort. Doch ihm gelingt  nur selten ein sprachliches Highlight wie das über unziemliche Berufswünsche von Bauerntöchtern in den 1950ern:

Lehrerin – das blieb für die Schwestern ein Traum, so unerreichbar wie die Fußball-Bundesliga für kleine Jungs heute.

Ein paar Formulierungen, die mich störten:

Geld wechselte schnell und scheinbar bedenkenlos den Besitzer ((S.14 Beck-Hardcover, 3. Auflage 2023, und ich zitiere das nicht wegen sträflichen Nicht-Genderns))

Jedes Kind musste sich mit seiner Familiengeschichte in einer anderen Umwelt positionieren und daraus Sinn machen ((Seite 15))

… von den Erfahrungen und Emotionen, die er ((der Wandel)) hervorrief, handelt dieses Buch  ((Seite 24))

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 1955 stand melken ((sic)) auf Platz fünf der Tätigkeiten, die… ((Seite 38))

Zweimal “vor allem” innerhalb von zwei Zeilen (Seite 58)

Kein Wunder, dass sie wie ihre beiden nächstjüngeren Schwestern vehement zurückweist, jemals den Wunsch gehegt zu haben, Bäuerin zu werden.

((Über ein typisches Kinderzimmer, Seite 73:)) Jenseits von Betten und Schrank gab es dort kaum Platz.

Assoziation:

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