Wiederkehrende Themen:
Todkranke Mütter und ihre erwachsenen Töchter; die Sexualität erwachsener Frauen, speziell der alleinstehenden oder mit einem kranken Mann; Untreue in Beziehungen; relativ schwache Männer (ausnahmsweise besonders starke); hartes Landleben in Kanada; religiöse Gruppierungen und ihr Lebensstil
Bei vielen Büchern denke ich, man hätte kompakter formulieren können – Adjektive weglassen, umständliche Nebensätze als Substantivierung (im Englischen wie hier weniger unschön als im Deutschen). Doch diesen Wunsch nach Straffung hatte ich bei Alice Munro nie; hier sitzt bereits jedes Wort, sie scheint schon konsequent gekürzt und verdichtet zu haben.
Ich habe hier fünf von zehn Geschichten gelesen; meine Durchschnittswertung der Gelesenen: 6,8/10.
Freundin aus meiner Jugendzeit – 6,5, engl. Friend of My Youth
Die liebe, aufopferungsvolle Flora plant eine Hochzeit mit Robert, doch das geht schief, und später noch einmal.
Interessante Geschichte über einen einsamen Hof im ländlichen Kanada. Verrückte und Egomanen triumphieren über religiösen Sanftmut, Frauen als Unterdrückte und Unterdrücker, Männer als stumme und doch spielentscheidende Samenspender. Mehrfach lachte ich erschrocken auf ob der dramatischen Wendungen. Alice Munro erzählt das in makellos fließendem Englisch.
Dem stülpt die Autorin eine wunderliche Rahmenhandlung über: die Ich-Erzählerin berichtet, wie ihre Mutter als Außenstehende die Geschichte mitverfolgt. Die Ich-Erzählerin selbst hat mit den Akteuren nichts zu tun, fantasiert dann aber ausgiebig über mögliche Entwicklungen und Alternativen. Sicherlich steckt in dieser Rahmenhandlung der eigentliche Gehalt des Texts, vielleicht auch das poetologische Konzept der später nobilitierten Alice Munro; mich stört die Konstruktion trotzdem.
Dass der Mann in der Geschichte nicht zu Wort kommt, hatte mich gewundert und wundert auch die Ich-Erzählerin:
To me the really mysterious person in the story, as my mother told it, was Robert. He never has a word to say.
Five Points – 7/10
Alice Monroe verbindet drei Geschichten:
- Neils Jugend in Vancouver, wo eine jugendliche, ausländische Ladenmitinhaberin Jungs für Sex gut bezahlt
- Der ländliche Gebrauchtladen von Brenda und ihrem kranken, zeitweise behinderten Mann Cornelius
- Brenda und Neils anhaltende Affäre, beide um die 40
Zwei Frauen, die sich Sex holen, stehen im Mittelpunkt; die Teenagerin wirkt sehr unrealistisch. Ansonsten ein Text voller Assoziationen, Andeutungen und Symbole, den man auch wie eine deftige Klatschgeschichte aus der Nachbarschaft lesen kann.
Halt mich fest, lass mich nicht los (engl. Hold Me Fast, Don’t Let Me Pass) – 6/10
Die Mitt50erin Hazel reist von Kanada nach Schottland auf den Spuren ihres verstorbenen Mannes, den sie dort einst kennenlernte. Unter anderem will sie seine früheren Flammen treffen. In den weiteren Rollen der Whisky-positive Dudley, die verkniffene Hotelbesitzerin Antoinette, die greise Miss Dobie und ihre Inhouse-Pflegerin Judy samt Töchterchen Tania – sowie Geister der Vergangenheit und eine wunderliche alte Ballade.
Wie immer schreibt Alice Munro sehr gute Einzelszenen perfekt knapp. Die möglichen Beziehungen der Schotten untereinander und zu der Ballade – wer mit wem – habe ich nicht verstanden.
- Link zum englischen Text in The Atlantic (nicht New Yorker)
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Äpfel und Birnen (engl. Oranges and Apples) – 7,5/10
Kaufhaus-Erbe heiratet Verkäuferin, verliert vieles. Später geraten der Autorin die Geldprobleme aus dem Blick, und es geht um die eheliche Dynamik angesichts äußerer Einflüsse.
Die Erzählstimme unterscheidet sich von den anderen Geschichten, ist hier deutlicher kumpelhaft und und säuselt weniger – in sich perfekt (alles andere enttäuschte auch), auch wenn man sich gelegentlich fragt, wer hier so markant spricht, aber keine Rolle in der Geschichte hat (wie bei den Brenner-Romanen von Wolf Haas).
Die Charaktere der Hauptfiguren zeichnet Alice Munro mit wenigen Strichen perfekt. Interessant, dass eine Geschichte des Niedergangs so beiläufig unterhaltsam klingt.
Bis zur vorletzten Seite hielt ich die Geschichte für besonders eingängig und geradeaus. Dann aber kommen seltsame Zeitsprünge und Verrätselungen.
Anders (engl. Differently) – 6/10
Mehrere gebildete Paare, unter ihnen ein Arzt, eine Buchhändlerin, eine Kreative; die Männer sind beruflich oft nicht zu Hause, und die Frauen werden ihren Partnern untreu – nicht mit den Männern der anderen Paare, sondern mit Außenstehenden; eine Frau spannt der anderen sogar die Affäre aus. Es gibt auch einen Tod durch Krankheit und eine Trennung. Ich konnte die Konstellationen nicht immer klar unterscheiden, und zwei Frauen geben sich zwischenzeitlich falsche Namen.
Schöne Einzelszenen, für Munro-Verhältnisse relativ glanzloses Englisch, das Großeganze verstand ich nicht.
Glaubst du, es war Liebe? (engl. Wigtime) – 7/10
Ein Schulbusfahrer betrügt eine Frau nach der anderen; drumherum eine Rahmenhandlung von zwei Teenagerinnen, da gehen die Liebeleien schon los.
Mehrere Geschichten aus unterschiedlichen Jahrzehnten gut kombiniert, zeitweise spannend wie ein Detektivroman, sehr nüchterne Sprache.
Assoziation:
Die Schüler-Szenen im Gebiet des winterlich eiskalten Lake Huron und Margots prügelnder Vater erinnern deutlich an Munros explizit autobiografische Geschichten im Band Wozu wollen Sie das wissen? (2006, engl. The View from Castle Rock), speziell an die Geschichte Väter
Persönliche Erklärung:
Ich habe die Munro-Geschichten abwechselnd mit den Geschichten aus dem Buch Was die Dörfer einst zusammenhielt von Ursula Siegel gelesen. Das war seltsam: wenn ich von Munro zu Siegel wechselte, änderte sich das Thema kaum – hartes Landleben in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Manchmal dachte ich, nanu, warum ist das denn jetzt Deutsch; ich hatte noch nicht ganz verinnerlicht, dass ich nicht mehr bei Munro, sondern schon wieder bei Siegel war.
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