Die Geschichten sind wohl weniger fiktional als üblich – aber auch nicht pur faktisch, keine eidesstattlichen Versicherungen. Alice Munro schreibt im Vorwort:
I was doing something closer to what a memoir does – exploring a life, my own life, but not in an austere or rigorously factual way. I put myself in the center and wrote about that self, as searchingly as I could. But the figures around this self took on their own life and color and did things they had not done in reality. . . . You could say that such stories pay more attention to the truth of a life than fiction usually does. But not enough to swear on.
Der autobiografische Gehalt bleibt also ungewiss – eine unbefriedigende, aber übliche Situation. Man meint, Hintergründe über Munros Jugend im ländlichen Kanada zu erfahren, die sie auch in vielen weiteren Kurzgeschichten behandelt.
Zumindest die Kurzgeschichten aus dem Mittelteil hier klingen nüchterner und weniger “lyrisch” als sonst bei Alice Munro, es gibt kaum Zeitsprünge und Rahmenhandlung, keine Rückblicke aus gereifter Erwachsenensicht. Ungewöhnlich deutlich betont die Autorin auch Klassenunterschiede: mal ist sie mit ihrer Familie der Underdog, mal leicht besser gestellt; dieses Thema geht Monroe behutsam an und beschreibt eher atmosphärische als materielle Kontraste.
Laut Vorwort schrieb Munro diese scheinbar stärker autobiografischen Stücke parallel zu anderen Kurzgeschichten in ihrem bekannteren, deutlich weniger linearen Stil, wollte sie aber nicht in einem Band vereint sehen, sondern brachte sie in getrennten Büchern zur Welt.
Ich habe nur die mittleren fünf von elf Geschichten gelesen, die von Munros Kindheit und Jugend handeln. Sie gefielen mir ausnehmend gut. Über rund 120 Seiten ziehen sich die ersten vier Geschichten um Munros Vorfahren im 18. und 19. Jahrhundert; ich überging sie ebenso wie die letzten Geschichten um Munro als Erwachsene, die zudem wieder deutlich “lyrischer” und rückblendiger wirkten.
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Von der Hände Arbeit leben, engl. Working for a living – 8/10
Alice Monroe bespricht das Aufwachsen ihres Vaters im ländlichen Kanada, seine Wandlung vom jungen Fallensteller zum Pelztierzüchter etwa in den 1920ern, das Auftauchen ihrer späteren Mutter, die den Vater auch aus geschäftlichen Interessen heiratet.
Den Munro-Vater kennen wir aus vielen Munro-Kurzgeschichten über Munros Jugend auf der Pelztierfarm ihrer Eltern, am freundlichsten vielleicht in der Geschichte Walker Brothers Company. Monroe schildert ihren Vater hier als Einzelgänger, der einen respektablen Weg geht, ein selfmade-man, der aber auch seine Grenzen kennt, etwa bei der Autoreparatur oder bei der Vermarktung; nicht unsympathisch. Alice Munro erzählt ungewöhnlich linear und schnörkellos, mit sparsamen suggestiven Worten; dennoch mit poetischen Momenten, wenn ihr Vater etwa komplizierte Gedichte völlig falsch versteht.
Väter, engl. Fathers – 7,5/10
Alice Munro erzählt aus ihrer Schülerzeit und von zwei Schulfreundinnen – genau genommen nicht Freundinnen, wie sie mehrfach betont, sondern Nachbarmädchen, mit denen sie zeitweise den Schulweg und die Schulbank teilte.
Das klingt wieder wie eine Erinnerung, sehr gut und nüchtern erzählt, zwei sehr gegensätzliche Mädchen mit sehr unterschiedlichen Elternhäusern, und Alice Munro und ihr Elternhaus als weiterer Kontrast. Eine durchgehende Handlung gibt es nicht, nur viele kleine reizvolle Episoden. Das Ende ist ungewöhnlich lasch.
- Assoziation: Die Kurzgeschichte Glaubst Du, es war Liebe, aus dem gleichnamigen Kurzgeschichtenband
Unterm Apfelbaum liegen, engl. Lying Under the Apple Tree – 8/10
Jugendliebe auf dem Land, und dann eine faustdicke Überraschung.
Im Kontext dieses Buchs ein relativ ausführlicher Plot, einfühlsam und mit viel Dialog erzählt. Schöne Einblicke in soziale Verhältnisse und Charaktere. Gut, dass Alice Munro die Überraschung am Ende nie andeutet; sie wirkt zudem stärker erfunden als vieles andere im Buch.
Aushilfe, engl. Hired Girl – 7,5/10
Die 17-jährige Ich-Erzählerin verbringt einen Sommer als Haushaltshilfe bei reichen Leuten mit vielen Gästen. Nichts passiert, auch wenn mehrfach Übergriffe scheinbar bevorstehen.
Gut erzählt, spannungsreich, wie immer mit knappen und treffenden Worten und eine der Geschichten mit stärker betonten Klassenunterschieden. Dass Munro die Klassenunterschiede nicht übertreibt, merkt man auch daran, dass keiner der angetrunkenen reichen Besucher über die Ich-Erzählerin herfallen will.
Daheim, engl. Home, 1974 – 7/10
Ausführliches Betrachten des unschön modernisierten, elterlichen Hofgebäudes und der ländlichen Umgebung. Später Altersgebreste bei Vater und Hund, Spannungen zwischen Tochter und Stiefmutter.
Beginnt zu elegisch-beschaulich, dann interessante Handlung, jedoch kranker Hund plus kranker Vater etwas viel. Geschichte erstmals 1974 veröffentlicht, dann deutlich geändert 2006 (dazu dt. Wiki).
Assoziation:
- Eine hier erwähnte groteske Unfall-Art taucht erneut auf in der Geschichte Danke für die Schlittenfahrt aus der Sammlung Tanz der seligen Geister.
- Die elterliche Farm beschrieb auch John Updike immer wieder (in Pennsylvania).
- Das Klagen über unschöne Modernisierung ertönt viel deutlicher auch in Wolfgang Schmidbauers Memoir Kindheit in Niederbayern.
- Daheim (wie diese Munro-Geschichte) heißt auch ein Roman von Judith Hermann, die von Alice Munro schwärmt; gibt es Parallelen?
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