Romankritik: Brooklyn, von Colm Tóibín (2009, Eilis Lacey 1) – 8/10

Jeder einzelne Satz hat Bedeutung – ist voll Zeitkolorit, Psychologie, Zwischentönen, jedoch ohne aufdringliche Symbolik. Dabei schreibt Colm Tóibín unaufdringlich leicht lesbar.

Tóibín schildert nur Alltagsdinge, verzichtet weitgehend auf unglaubliche Zufälle und implausibles Verhalten (eine etwas romanhafte transatlantische Plotsymmetrie und überraschende Verwandtschaft gegen Ende sind noch nicht zu weit hergeholt). Selten fühlte ich mich so nah an den Figuren.

 Ein bisschen boy meets girl kredenzt Tóibín erst ab der Buchmitte – bis dahin war seine Hauptfigur Eilis Lacey etwas zu Engel, und ihr Galan Tony allzu tugendhaft. Besonders eindrucksvoll beschreibt Tóibín ältere, machtbewusste Frauen und ihre indirekten, aber messerscharfen Aussprüche – Ladeninhaberin Nelly Kelly in Irland und die möblierte Vermieterin Mrs. Kehoe in Brooklyn.

Freilich gibt es einen sehr überraschenden Todesfall, und die sonst so artige Eilis agiert mehrfach deutlich freier und weniger konventionell, als das steife 1950er-Jahre-Umfeld von ihr erwartet – beides bringt Fahrt in den sonst ereignisarmen Roman.

Ein wenig zu aufdringlich behandelt Tóibín die Themen Irland, Homosexualität und Katholizismus, vielleicht bin ich aber auch zu empfindlich. Dass hier ein Mann vor allem über Frauen schreibt samt sexueller Details, störte mich ungewohnt wenig. Dreimal heißt es im engl. Original sinngemäß, “a car beeped the horn” – diese Verb-Substantiv-Kombi irritierte mich jedesmal.

Assoziation:

Unterschiede zwischen den Tóibín-Romanen Brooklyn (2009, Eilis Lacey 1) und Long Island (2024, Eilis Lacey 2)

  • Brooklyn ist in den ersten zwei Dritteln ereignis- und spannungsarm – ganz anders als Long Island.
  • Colm Tóibín erzählt Brooklyn  komplett aus der Perspektive von Eilis Lacey; in Long Island gibt es längere Abschnitte aus anderen Perspektiven, und es gibt zudem allerlei Rückblenden.
  • Long Island hat deutlich mehr Personal und (deshalb?) mehr (mögliche) Untreue, darum wirkt Long Island auch klatschhafter und dramatischer.

In beiden Geschichten…

  • erscheinen am Rand Homosexuelle, vorübergehende Buchhalterjobs und geht es um irische Besonderheiten und um die Erfahrung von Auswanderern und das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen.
  • Beide Bücher erwähnen zeitgeschichtliche Ereignisse nur am Rand.
  • Beide Bücher präsentieren sittenstrenge durchsetzungsstarke Witwen im fortgeschrittenen Alter – eventuell in Erinnerung an Tóibíns Mutter.
  • Beide Romane sind voll feiner Psychologie und spannungsreicher Dialoge, geschrieben in einfacher, aber nie flacher Sprache. (Ich kenne nur die englischen Originale.)
  • Beide Bücher fesselten mich mehr als die meisten anderen, ich las mehr pro Tag als sonst, und ich war froh, sie in leicht transportablen Taschenbuchfassungen dazuhaben.
  • Beide Bücher haben ein ähnliches Handlungsschema.

Theoretisch kann man nur Long Island lesen…

und auf Brooklyn verzichten, denn Colm Tóibín strickt Hintergründe aus dem ersten Roman etwas plump in den Nachfolger hinein. Ich würde gleichwohl beide Romane in der richtigen Reihenfolge lesen – sie sind von ähnlicher Qualität und von ähnlicher Art. Zumindest als Film sollte man sich den ersten Roman zu Gemüt führen (die Verfilmung unterschlägt allerdings einige Figuren aus dem Buch).

Im Zweifel ist Brooklyn als Buch besser, fokussierter, als Long Island. Allerdings bietet Long Island das modernere Ambiente und die abwechslungsreichere Handlung.

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