Romankritik: Long Island, von Colm Tóibín (2024, Eilis Lacey 2) – 7/10

Colm Tóibín zieht den Leser tief hinein in zwei Biotope:

  • Eine Großfamilie auf Long Island mit italienisch-irischem Migrationshintergrund
  • eine konservative irische Kleinstadt, in der jeder alles über jeden weiß / wissen möchte / zu wissen glaubt

Etwas aufdringlich erzeugt der Autor Spannung:

  • Gleich zu Beginn platzt in das vermeintliche Großfamilienidyll in Long Island eine Ehebruchiade mit potentiell dramatischen Folgen, die jedoch noch einige Wochen ausstehen; der Leser wartet erregt auf den Gang der Dinge.
  • Im heimlichtuerischen Milieu der irischen Kleinstadt Enniscorthy weiß der Leser oft mehr als einzelne Protagonisten (Tóibin erzählt aus wechselnden Perspektiven) und ahnt bevorstehenden Betrug genüsslich voraus.
  • Tóibín springt wiederholt zwischen Zeitebenen und Perspektiven – gern dann, wenn daraus ein Cliffhänger resultiert.
  • Zudem überspringt der Erzähler erwartete, entscheidende Momente und greift den Faden erst später wieder auf; der Leser erfährt also später als möglich von der weiteren Entwicklung.
  • Einmal deutet Tóibín einen wichtigen Plan einer tief enttäuschten Hauptfigur an, ohne ihn zunächst zu erklären, ein billiges Spannungsmittel

Die angespannte Situation in der italienischen Großfamilie auf Long Island schildert Colm Tóibín einfühlsam und prickelnd. Dann jedoch verliert der Roman an Fokus. Tóibín stellt wechselnde Figuren in den Mittelpunkt, flicht immer wieder kurze Rückblenden ein – manchmal meint man, er habe die Teile erst nachträglich gestückelt und etwas nachlässig arrangiert, unsicher über die Platzierung von Cliffhängern. Vielleicht sind auch Überbleibsel vom Vorgängerroman dabei. Miriam Sheridans Hochzeit erklingt sogar zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven.

Völlig unrealistisch wirkt nichts…

im Roman. Doch Eilis Lacey handelt wieder sehr willkürlich, und eine andere Hauptfigur plaudert ohne Not ein Geheimnis aus, das sie für sich behalten musste; das überzeugt den Leser nicht, bringt aber Zunder in die Handlung. Zweimal erhält eine Hauptfigur überraschend Geldgeschenke, die neue Entwicklungen einläuten.

Die Beziehungen ändern sich wiederholt, und die Spannung bleibt hoch, weil der Leser meist mehr weiß als einzelne, tief involvierte Figuren.

Assoziation:

Unterschiede zwischen den Tóibín-Romanen Brooklyn (2009, Eilis Lacey 1) und Long Island (2024, Eilis Lacey 2)

  • Brooklyn ist in den ersten zwei Dritteln ereignis- und spannungsarm – ganz anders als Long Island.
  • Colm Tóibín erzählt Brooklyn komplett aus der Perspektive von Eilis Lacey; in Long Island gibt es längere Abschnitte aus anderen Perspektiven, und es gibt zudem allerlei Rückblenden.
  • Long Island hat deutlich mehr Personal und (deshalb?) mehr (mögliche) Untreue, darum wirkt Long Island auch klatschhafter und dramatischer.

In beiden Geschichten…

  • erscheinen am Rand Homosexuelle, vorübergehende Buchhalterjobs und geht es um irische Besonderheiten und um die Erfahrung von Auswanderern und das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen.
  • Beide Bücher erwähnen zeitgeschichtliche Ereignisse nur am Rand.
  • Beide Bücher präsentieren sittenstrenge durchsetzungsstarke Witwen im fortgeschrittenen Alter – eventuell in Erinnerung an Tóibíns Mutter.
  • Beide Romane sind voll feiner Psychologie und spannungsreicher Dialoge, geschrieben in einfacher, aber nie flacher Sprache. (Ich kenne nur die englischen Originale.)
  • Beide Bücher fesselten mich mehr als die meisten anderen, ich las mehr pro Tag als sonst, und ich war froh, sie in leicht transportablen Taschenbuchfassungen dazuhaben.
  • Beide Bücher haben ein ähnliches Handlungsschema.

Theoretisch kann man nur Long Island lesen…

und auf Brooklyn verzichten, denn Colm Tóibín strickt Hintergründe aus dem ersten Roman etwas plump in den Nachfolger hinein. Ich würde gleichwohl beide Romane in der richtigen Reihenfolge lesen – sie sind von ähnlicher Qualität und von ähnlicher Art. Wer nur das zweite Buch lesen will, sollte sich das erste zumindest in der gelobten Verfilmung zu Gemüt führen (die Verfilmung unterschlägt allerdings einige Figuren aus dem Buch).

Im Zweifel ist Brooklyn als Buch besser, fokussierter, als Long Island. Allerdings bietet Long Island das modernere Ambiente und die abwechslungsreichere Handlung.

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