Colm Tóibín zieht den Leser tief hinein in zwei Biotope:
- Eine Großfamilie auf Long Island mit italienisch-irischem Migrationshintergrund
- eine konservative irische Kleinstadt, in der jeder alles über jeden weiß / wissen möchte / zu wissen glaubt
Etwas aufdringlich erzeugt der Autor Spannung:
- Gleich zu Beginn platzt in das vermeintliche Großfamilienidyll in Long Island eine Ehebruchiade mit potentiell dramatischen Folgen, die jedoch noch einige Wochen ausstehen; der Leser wartet erregt auf den Gang der Dinge.
- Im heimlichtuerischen Milieu der irischen Kleinstadt Enniscorthy weiß der Leser oft mehr als einzelne Protagonisten (Tóibin erzählt aus wechselnden Perspektiven) und ahnt bevorstehenden Betrug genüsslich voraus.
- Tóibín springt wiederholt zwischen Zeitebenen und Perspektiven – gern dann, wenn daraus ein Cliffhänger resultiert.
- Zudem überspringt der Erzähler erwartete, entscheidende Momente und greift den Faden erst später wieder auf; der Leser erfährt also später als möglich von der weiteren Entwicklung.
- Einmal deutet Tóibín einen wichtigen Plan einer tief enttäuschten Hauptfigur an, ohne ihn zunächst zu erklären, ein billiges Spannungsmittel
Die angespannte Situation in der italienischen Großfamilie auf Long Island schildert Colm Tóibín einfühlsam und prickelnd. Dann jedoch verliert der Roman an Fokus. Tóibín stellt wechselnde Figuren in den Mittelpunkt, flicht immer wieder kurze Rückblenden ein – manchmal meint man, er habe die Teile erst nachträglich gestückelt und etwas nachlässig arrangiert, unsicher über die Platzierung von Cliffhängern. Vielleicht sind auch Überbleibsel vom Vorgängerroman dabei. Miriam Sheridans Hochzeit erklingt sogar zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven.
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Völlig unrealistisch wirkt nichts…
im Roman. Doch Eilis Lacey handelt wieder sehr willkürlich, und eine andere Hauptfigur plaudert ohne Not ein Geheimnis aus, das sie für sich behalten musste; das überzeugt den Leser nicht, bringt aber Zunder in die Handlung. Zweimal erhält eine Hauptfigur überraschend Geldgeschenke, die neue Entwicklungen einläuten.
Die Beziehungen ändern sich wiederholt, und die Spannung bleibt hoch, weil der Leser meist mehr weiß als einzelne, tief involvierte Figuren.
Assoziation:
- Nora Webster, Titelfigur aus einem anderen Tóibín-Roman, hat einen Kurzauftritt
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Unterschiede zwischen den Tóibín-Romanen Brooklyn (2009, Eilis Lacey 1) und Long Island (2024, Eilis Lacey 2)
- Brooklyn ist in den ersten zwei Dritteln ereignis- und spannungsarm – ganz anders als Long Island.
- Colm Tóibín erzählt Brooklyn komplett aus der Perspektive von Eilis Lacey; in Long Island gibt es längere Abschnitte aus anderen Perspektiven, und es gibt zudem allerlei Rückblenden.
- Long Island hat deutlich mehr Personal und (deshalb?) mehr (mögliche) Untreue, darum wirkt Long Island auch klatschhafter und dramatischer.
In beiden Geschichten…
- erscheinen am Rand Homosexuelle, vorübergehende Buchhalterjobs und geht es um irische Besonderheiten und um die Erfahrung von Auswanderern und das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen.
- Beide Bücher erwähnen zeitgeschichtliche Ereignisse nur am Rand.
- Beide Bücher präsentieren sittenstrenge durchsetzungsstarke Witwen im fortgeschrittenen Alter – eventuell in Erinnerung an Tóibíns Mutter.
- Beide Romane sind voll feiner Psychologie und spannungsreicher Dialoge, geschrieben in einfacher, aber nie flacher Sprache. (Ich kenne nur die englischen Originale.)
- Beide Bücher fesselten mich mehr als die meisten anderen, ich las mehr pro Tag als sonst, und ich war froh, sie in leicht transportablen Taschenbuchfassungen dazuhaben.
- Beide Bücher haben ein ähnliches Handlungsschema.
Theoretisch kann man nur Long Island lesen…
und auf Brooklyn verzichten, denn Colm Tóibín strickt Hintergründe aus dem ersten Roman etwas plump in den Nachfolger hinein. Ich würde gleichwohl beide Romane in der richtigen Reihenfolge lesen – sie sind von ähnlicher Qualität und von ähnlicher Art. Wer nur das zweite Buch lesen will, sollte sich das erste zumindest in der gelobten Verfilmung zu Gemüt führen (die Verfilmung unterschlägt allerdings einige Figuren aus dem Buch).
Im Zweifel ist Brooklyn als Buch besser, fokussierter, als Long Island. Allerdings bietet Long Island das modernere Ambiente und die abwechslungsreichere Handlung.
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Na ja, dieses Buch. Romane schreibe ich keine, dafür seit einem halbes Leben lang viele Fachbücher. Bei Long Island, höchstes Lob der Kommentatoren und Kritiker, das Buch bekam ich von einer Bekannten, die es gelesen hat, sollte “interessant” sein, so deren Kommentar. Dann hab ichs mir vorgenommen, bis zum Ende zu lesen. Bei einem “nichtjuristischen” Buch glaube ich – rein subjektiv gesehen – nach den ersten 20 Seiten zu wissen, ob ich weiterlese oder es im Regal als Vorhof zur irgendwann drohenden Papiertonne landet. Long Island hat die ersten 20 Seiten bei mir überstanden. Fazit – sehr problematisch – hohe “literarische Kunst” (was auch immer das sein soll) ist es nach meinem Dafürhalten eher nicht, Durchschnitt? Weiss ich immer noch nicht, grottenschlecht sicher nicht. Der Einstieg, unkonventionell, atypisch, wenn das im Leben so vorkommen würde, dann bekäme die das sagende Person eine “Schimpftirade”. Mein Leben war ja nicht so gestaltet, dass ich mir jemals so etwas hätte anhören müssen, trotz diverser Beziehungen. Im Leben würde ich da nach drei Sätzten nur sagen “Schraube locker… schleich Dich”. Dann die langen Schilderungen des idyllischen Lebens der Hauptperson in Long Island. Überwiegend belanglos, ohne Höhen und Tiefen, “Live like everbody”. Meines Erachtens zu detailverliebt, man kann Romane durchaus so schreiben, dann aber mit einigen faszinierenden Einlagen, wie etwa in der “Abtei” oder der “Burg” von Brandstetter oder im Stile von Herbert Rosendorfer – den ich persönlich kannte, wir waren ja Berufs-Kollegen. Zurück zu Longe Island, nach etwa 50 Seiten bröckelt die – eigentlich eh nicht vorhandene – Spannung ab, vermutlich geht der Weg der Hauptperson zurück nach Irland, ist absehbar, wohin auch sonst, dass er nicht nach Italien oder Madeira geht war klar. Also dann in Irland – hier auch wieder viel aus dem Alltag, dass dieser anders ist als in Long Island ist ebenso erwartbar, etwa wie der Unterscheid zwischen Bayern und Marokko. Man wartet als Leser auf eine Entscheidung, dramatisch oder wie auch immer geartet. Entscheidungen mit der Kücheneinrichtung sind zwar auch zu treffen, aber das ist eher nicht das Thema. Gefühlskonflikte in alle Richtungen, über lange lange und viele Seiten dann. Spannung, könnte sein, muss aber nicht, mache Romane schaffen es auch ohne jegliche (künstliche) Spannung, gut zu sein. Oder Lebenserinnerungen, Spagat zwischen Realität und Traum – etwa die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch von Solomon Volkov, angeblich authentisch aber teilweise wohl auch (zu?) viel Phantasie. Zurück zum Geschenen in Irland, unspektakulär, dass jemand, wenn es Realität wäre, sich intensiv überlegt, wohnin die emotionale Reise geht, das ist eigenlich klar, (fast) jeder von uns Menschen könnte sich wohl (auch?) vorstellen, einen Mann oder eine Frau aus der Vergangenheit “zurückzuerlangen”, wenns denn tatsächlich möglich wäre, was zumeist – auch bei “der”, an die ich gerade und auch beim Lesen des Buches dachte – möglich gewesen (!) wäre, was aber defacto ausgeschieden ist, andere Menschen überlegen da vielleicht immer noch, weils noch nicht das endgültige Ende gab. Ob der Autor da genügend Spannung, das ein Buch – von der von den “Kritikern” angenommenen Klasse – auszeichnen muss, aufbauen konnte mag jeder Leser von Long Island selbst entscheiden, nach meinem Dafürhalten ist es ihm leider nicht sonderlich gelungen. Ein langer endloser Reigen von Familienereignissen, gelegentliche Landschaftsszenarien, Belanglosigkeiten und Gefühlsfragen, ebensolche Lagen und ein indifferenter und als bleiern (der schwer wie Gold?) empfundener Zustand. Damit das auch richtig verstanden werden möge, ich sage nicht, wie dies anders, besser, fulminater oder wie auch immer literarisch gegangen wäre, ich sage nur, es ist wohl eine romanhafte Umschreibung einer gebrochenen Idyllle mit Gefühlsrissen und Zwischentönen. Kein leichtes und gar kein seichtes Gebiet bei dem Roman. Fazit, das Buch ist nicht schlecht, aber nach meinem subjektiven Dafürhalten auch nicht ausgesprochen gut, es liegt irgendwo dazwischen, das mag jeder Leser selbst entscheiden, wo denn genau das sein könnte …