Enthält 12 Kurzgeschichten, wurde offenbar nie auf Deutsch verkauft. Gelesen habe ich hier neun Texte, mit Bewertungen von 6,0 bis 8,5, im Durchschnitt 7,06.
Wiederkehrende Themen:
Erzählt aus Frauenperspektive; zwei Frauen im Mittelpunkt, deren Gedanken um Männer kreisen; Eheleben und Ehebruch; Einstieg unmittelbar einleitungsfrei mit Handlung; sehr rund, fast aufdringlich gefällig komponiert; kleinstädtische, dörfliche Kulisse; einfache Leute.
Anfang und Ende sind wohl definiert, die Geschichten runden sich (anders als bei Alice Munro, wo es ausplätschert). Es gibt Konstellationen wie vom Millimeterpapier:
- der blinde Klavierstimmer heiratet erst eine Frau und nach deren Tod die zweite, die ihn schon immer haben wollte, und das in derselben Kirche
- zwei Ehebrecher heiraten und ihre Scheidungskinder – genau ein Junge und ein Mädchen, welch Zufall, aus den beiden zerbrochenen Ehen – spielen den Rosenkrieg nach
- Ein Haushüter soll Einbrecher abschrecken, wird aber trotzdem überfallen
Manches deutet William Trevor zu aufdringlich an: so kommt der Junge in ein Zimmer, in dem der Vater mit der untreuen Mutter böse stritt und jetzt Stille herrscht; der Junge sieht nicht nur, wie seine Mutter sich die Wange hält, sondern auch – und das ist zu viel – wie der Vater eine Hand mit der anderen umklammert “as if in restraint”. Die erste Geste reicht, um einen vorhergegangenen Schlag ins Gesicht mitzuteilen; die zweite wirkt hilflos, als ob der Autor seiner ersten Andeutung nicht traute.
Assoziation:
- Ehebruchiaden und Kurzgeschichten, teils mit involvierten Kindern, gehören auch zu John Updikes Kernkompetenz
- Komposition, Milieus und Pointen wirken etwas aufdringlich, etwas altmodisch; ich dachte deshalb an John Cheevers Kurzgeschichten, die mir noch weniger gefallen
- Nicht-Akademiker in kleinstädtischen und dörflichen Kurzgeschichten wie oftmals bei Alice Munro
- Die vergleichbar spießigen, engen irischen Kleinstädte bei Colm Tóibín
Die Geschichten im einzelnen:
The Piano Tuner’s Wives (1995) – 8/10
Der verwitwete, blinde Klavierstimmer heiratet ein zweites Mal – die Frau, die ihn schon beim ersten Mal haben wollte und deswegen immer noch verbittert ist.
Wunderbar sichere Erzählstimme, exzellent auch die knappe wörtliche Rede. Interessante Beobachtungen aus der Perspektive eines Blinden, der die Welt durch die Augen und die eigenwilligen Beschreibungen seiner ersten Ehefrau kennenlernte, und einer zweiten Ehefrau, die darüber nicht hinwegkommt.
Trevor beschreibt eine originelle Konstellation, und die Geschichte rundet sich gefällig – damit wirkt sie konventioneller und vielleicht weniger langlebig als die betont offenen und hingetupften Erzählungen von Alice Munro. Zugleich könnte man sich diese Handlung auch als ausgewachsenen Roman vorstellen.
Etwas fraglich, warum der Blinde und keinesfalls Vermögende mehrere Verehrerinnen hat. Meine Befürchtung, diese Handlung um einen blinden Klavierstimmer und seine verbitterte zweite Frau könne den Leser zu sehr herunterziehen, bestätigte sich nicht.
Erschien 1995 im New Yorker. Hier verwendet William Trevor das irische Wort “streel” – es ließ sich zunächst online nicht finden, weil Google bei verschiedenen Suchen mein getipptes “streel” ungebeten durch “steel” ersetzte.
A Friendship – 7/10
Francesca ist mit dem selbstherrlichen Juristen Philip verheiratet und mit ihren zwei Söhnen leicht überfordert. Ihre gute Freundin Margy schlägt ihr zur Entspannung eine Affäre mit dem liebenswerten Antiquitätenhändler Sebastian vor.
Die Kurzgeschichte klingt teilweise wie eine Farce, oder wie die Parodie einer Vorabendserie, und am Ende kommt es anders, als man denkt. Wie immer sehr sicher erzählt und mit lebendigen Details.
Zu aufdringlich zeigt William Trevor jedoch anfänglich Francescas allgemeine Arglosigkeit – sie registriert nicht den unpassenden Zementgeruch nach einem Streich ihrer Söhne, sie nimmt Scherze für bare Münze. Francesca verurteilt die Streiche ihrer Söhne, während Margy sie preist.
Child’s Play – 6/10
Gerard und Rebecca stammen aus verschiedenen Familien. Doch Gerards Mutter betrug ihren Mann mit Rebeccas Vater; die Familien lösen sich auf, Gerards Mutter heiratet Rebeccas Vater, beide Kinder bleiben bei diesem Paar.
Die Kinder spielen den Rosenkrieg, den sie zwei Jahre lang miterlebten, auf dem leeren Dachboden nach und mischen noch Filmszenen und Ausschnitte aus den Liebesbriefen ihrer Erzeuger darunter – wie Gerards Vater verbittert seine untreue Frau schlug, wie sie mögliche Liebesnester auskundschaften.
Das ist eine witzige Idee, und William Trevor kredenzt gute Dialoge. Doch die traut man Neun- und Zehnjährigen keinesfalls zu, nicht mal, wenn man ihnen filmi filmi Altklugheit zugesteht. Wieder eine dieser Trevor-Geschichten, die etwas zu konstruiert erscheinen und mit einem allzu runden Ende. – Engl. Volltext.
A Bit of Business – 6,5/10
Zwei Jugendliche brechen in ein Eigenheim ein. Dabei müssen sie überraschend einen älteren Herren fesseln. Später reißen sie ein paar Frauen auf, fragen sich dabei aber nervös, ob sie den Tatzeugen nicht besser umgebracht hätten.
Die Dialoge klingen authentisch. Die Kombination von Papstbesuch, Einbruch und Frauenaufriss ist eigentümlich.
After Rain – 6,5
Alleinreisende Irin sitzt im lebhaft besuchten Speiseraum einer italienischen Pension und trauert ihren verflossenen Lieben und der gescheiterten Ehe ihrer Eltern hinterher. Die diskrete Annäherung eines alleinreisenden Herrn interessiert sie nicht.
Schönes, melancholisches und handlungsarmes Stimmungsbild, ein wenig gönnerhaft, wie oft, wenn Männer über Frauen schreiben. Allerlei Anspielungen auf Romanpassagen und Heilige habe ich nicht verstanden. Das Szenario erinnerte mich vag an Hotel du Lac von Anita Brookner.
Widows – 7/10
Zwei verwitwete Schwestern Mitte, Ende 50 leben zusammen. Ein Handwerker fordert einen Betrag, den der kürzlich verstorbene Ehemann der jüngeren vermeintlich nicht zahlte. Dies sät Zwietracht zwischen den Schwestern.
Hochpräzise und spannungsvoll erzählt, jedes Wort sitzt. Wie meist schreibt Trevor aus Frauenperspektive, und ich bin nicht immer glücklich damit:
For Alicia there was the memory of her beauty.
Gegen Ende verstehe ich ein paar Sätze nicht, trotz verschiedener Online-Übertragungen:
By chance, a petty dishonesty had made death a potency for her sister, as it had not been when she was widowed herself. Alicia had cheated it of its due; it took from her now, as it had not then.
The Potato Dealer – 8,5/10
Junges Ding auf dem katholischen Land lässt sich von reisendem Pfarrer schwängern und zur Verdeckung der Schande von einem drögen Kartoffelhändler heiraten.
Psychologisch sehr genau, fast atemberaubend spannend, trotz durchweg wenig liebenswerter Figuren. Sprachlich sehr präzise.
A Day – 7/10
Sehr einfühlsam über eine kinderlose mittelalte Frau, die von der Affäre ihres Mannes mit einer anderen weiß, dies jedoch jahrelang nicht zur Sprache bringt und still fürchtet, verlassen zu werden – die Unfruchtbarkeit raubt ihr Selbstbewusstsein, und dass der Mann es nicht bringt, wird nie angedeutet.
Wenig Dialog, aber gut, vor allem die dampfplaudernde Putzfrau Marietta. Jedoch zu viel Gedankenstrom und Spekulation der betrogenen Gattin.
Wieder einmal schreibt William Trevor zu einfühlsam über das Innenleben einer unglücklichen Frau, hier sogar “a barren woman”. Doch Kinderlosigkeit war ein Schandmal nur in fernen Welten und Zeiten (wie im Hindi-Film Mandi mit Shabana Azmi von 1983), aber nicht im Westen der 1990er (vgl. die wenig bekümmerte, kinderlose Betty in Jane Gardams Old Filth). Dass die Kinderlose auch noch trübtassig Hochprozentiges süffelt und wegdämmert, bevor ihr Mann endlich heimkommt, ist klischeehaft und melodramatisch.
Assoziation: der Roman Ehen in Philippsburg von Martin Walser. Auch dort deckt eine Frau einsam den Tisch fürs Abendessen in Erwartung des ausbleibenden Mannes, aber bei Walser ist diese Frau die Geliebte und nicht die Ehefrau.
Marrying Damian – 7/10
Alter Freund eines alten Ehepaares, ein unterhaltsamer, aber unzuverlässiger Herumtreiber mit drei Ex-Ehefrauen, will dessen Tochter heiraten. Die ist offenbar von ihm verzaubert, war es schon als Kleinkind.
He would be eighty-one when Joanna was forty-eight.
Wie immer sehr plastische Charakterzeichnung und ein interessanter Konflikt, aber zu viel Rückblick und wenig Handlung. Ungewöhnlich: ein Ich-Erzähler, und dann auch noch ein Mann.
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Colm Tóibín | Bücher Irland |
Bücher bei HansBlog.de:
- Westliche Länder: Gute Belletristik oder gute Sachbücher oder westliche Bücher insgesamt
- Romane aller Länder: Die guten (7+ Sterne), die annehmbaren (4 – 6 Sterne), oder alle
- Bücher mit Humor: Alle oder nur die guten
- Sachbücher: Alle (oder nur die guten) oder alle aus Europa
- England-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- USA-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- Deutschland-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- Indien-Romane: Die guten oder die annehmbaren oder alle
- Alle Kurzgeschichten-Bände (oder nur die guten)