Kritik Kurzgeschichten: Offene Geheimnisse, von Alice Munro (1994, engl. Open Secrets) –7/10

Viele dieser Geschichten erschienen Anfang der 1990er im New Yorker. Sie spielen alle zumindest teilweise im selben Landkreis, zumeist in derselben fiktiven Kleinstadt Carstairs in der kanadischen Provinz. Einige Personen und Einrichtungen kehren mehrfach wieder, doch es gibt keine interessanten Querverbindungen zwischen den Kurzgeschichten.

ICH MOCHTE: Alice Munro schreibt robust, oft hervorragend lesbar, weniger säuselnd als in Büchern nach der Jahrtausendwende. Sie schreibt psychologisch genau in Dialogen und erzählenden Passagen.

WENIGER: Die Geschichten haben einzelne verrätselte Abschnitte. Das Ende bleibt teilweise offen, oder es kommen unterschiedliche Varianten in Frage.

Von den acht Geschichten hier habe ich außer “Vandals” alle gelesen, im englischen Original; meine errechnete Durchschnittswertung ist genau 6,5. Gefühlt würde ich mindestens 7 Sterne geben.

Anders als in späteren Bänden schreibt Alice Munro hier nicht über ihre Jugend auf der Pelztierfarm. Einige Plots sind relativ spannend bis kriminalistisch: in zwei Kurzgeschichten verschwinden junge Frauen spurlos und werden gesucht, mit unterschiedlichen Verdachtsmomenten in der Kleinstadt; eine Frau korrespondiert unter falschen Namen mit ihrem Ex, nachdem sie einen Brief aus seinem Briefkasten gestohlen hatte.

Wiederkehrende Motive:

Buchläden und Büchereien; bedeutungsvolles Erwähnen uralter angelsächsischer Autoren; westlicher Alltag kombiniert mit fernen Zeiten und Ländern, etwa mit Albanien in den 1920ern, Australien, kanadisches Siedlerland um 1850 oder erster Weltkrieg in Europa; Annäherung zwischen Mann und Frau durch Briefe (und eine weitere Geschichte mit enthüllenden Briefen); alleinstehende Frauen vor oder nach Ehe; Ehebruch; Männer = treulose Tomaten und/oder Widerlinge; einfache Leute und Biedermänner; verrätselte phantasierte Abschnitte oder widersprüchliche Aussagen machen eine bis dato realistische Erzählung diffus; mehrere mögliche Varianten eines Endes.

Interessante sozialhistorische Details auch aus fernen Welten unaufdringlich eingeflochten lassen intensive Recherche vermuten

Entrückt – Carried away – 7,5/10:

Alice Munro stöpselt zwei Geschichten um die alleinstehende, junge Bibliothekarin Louisa aneinander: zunächst, im Ersten Weltkrieg, wechselt sie Briefe mit einem ihr kaum bekannten US-Soldaten. Der kehrt später als Fabrikarbeiter in ihre Stadt zurück. Louisa bleibt Bibliothekarin, gelegentlich setzt sich der Chef des Arbeiters in den Lesesaal ihrer Kleinstadtbücherei.

Alice Munro schreibt in dieser Geschichte, die schon im Englischen rund 47 Seiten belegt, ungewöhnlich linear und intim. Das hat mich zeitweise gefesselt und berührt. Ein paar Seiten gegen Ende fallen aber auch komplett heraus, ich verstand sie erst nach Lektüre der Sekundärliteratur online, andere Leser haben die Szene also schneller verstanden als ich.

  • Assoziation: Annäherung vermeintlich Unbekannter durch Briefe, wie in der Geschichte The Jack Randa Hotel aus demselben Buch (unten). Carried Away ist auch der Titel eines Alice-Munro-Sammelbands.

Ein echtes Leben – A Real Life – 7,5/10: 

Alice Munro schreibt packend, beiläufig, die Kurzgeschichte lässt sich kaum weglegen. Die Autorin driftet gleichwohl zunächst von einer weiblichen Hauptfigur zur anderen: Dorrie, Millicent, Muriel, sie alle sind “befreundet”, und dann muss man noch die daranhängenden Brüder und Männer samt abgelehnter Mitbewerber auseinanderhalten. Munro erzählt zunächst nur Episödchen und Rückblenden.

Allmählich schält sich Dorrie als Hauptfigur heraus, eine Trapperin, die Tiere schießt und fängt und häutet und kein gepflegtes Ambiente braucht, geschildert meist aus der Sicht von Millicent. Ausgerechnet Dorrie, von Munro schon etwas aufdringlich als dreckstarrende Trapperin beschrieben, bekommt einen Heiratsantrag.

Es ist selten bei Munro, aber hier habe ich mehrfach gelacht, unter anderem bei der Vorstellung der zupackenden Dorrie:

A man in the area had named a horse after her.

  • Assoziation: Wie in der nachfolgenden Geschichte The Albanian Virgin stellt Alice Munro 3 Frauen ins Zentrum.

Die albanische Jungfrau – The Albanian Virgin – 6/10:

”Lottar”, kanadische Touristin in den 1920ern, lebt eine Zeit lang mit albanischen Dörflern; Charlotte ist eine Filmemacherin in den 1980ern und hat sich die Geschichte von “Lottar” ausgedacht; sie erzählt die ”Lottar”-Geschichte ihrer Freundin Claire, der Buchhändlerin. Claire ist die Ich-Erzählerin, die auch von frühen Ehejahren und dem Start in den Buchhandel berichtet.

Alice Munro mischt Themen und Zeiten noch wunderlicher als in vielen anderen Kurzgeschichten – als habe sie zwei zunächst unabhängig existierende Handlungen zu einer Cuvee verschnitten.

Die Schwerpunkte verschieben sich auch – zunächst bekommt “Lottar” in Albanien mehr Text, dann geht es plötzlich seitenlang um Buchhändlerin Claire in Kanada, ihre laxe Moral und ihre Kundschaft im Laden. Auch das Ende ist noch wunderlicher als in anderen Munro-Geschichten.

Laut Wikipedia zählt die Geschichte zu den 16 meistpublizierten von Alice Munro. Curtis Sittenfeld sagt, keine Geschichte habe sie öfter gelesen als die albanische Jungfrau.

  • Assoziation: ein junges, nicht gerade heiß verliebtes Paar in einem Miethaus und eine beiläufige Ehebruchiade mit anderen jungen Hausbewohnern, das schreibt Alice Munro öfter. – Wie in der vorhergehenden Geschichte A Real Life stellt Alice Munro drei Frauen ins Zentrum.
  • Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Raymond Carver | Richard Yates | Richard Ford | John Updike

Offene Geheimnisse – Open Secrets – 7/10:

Beim Camping-Wochenende der Mädchengruppe verschwindet  Heather Bell spurlos; in der Kleinstadt macht man sich auf die Suche und Gedanken.

Ausnahmsweise eine Geschichte ohne Liebe, die mich wegen des üblichen bezwingenden Erzähltons trotzdem nicht losließ, selbst wenn sie voller Widerlinge ist, vor allem  männlicher. Mutmaßlich verrät uns Alice Munro gegen Ende den Täter und das Schicksal des Mädchens, aber ich habe es nicht verstanden. Immerhin halten die üblichen Munro-Blogger die Frage auch für eher offen.

  • Assoziation: auch in der Geschichte Spaceships Have Landed weiter hinten im Buch kommt eine junge Frau abhanden.

Das Jack Randa Hotel – The Jack Randa Hotel – 7,5/10: 

Für Alice Monroe ein relativ spannender Plot: eine Frau korrespondiert mit ihrem Ex-Partner unter falscher Identität, nachdem sie zunächst einen Brief an ihren Ex aus dessen Briefkasten stahl; der Austausch nimmt Fahrt auf.

Das Undenkbare geschieht hier: Alice Munro packt ephemere Flugreiseabenteuerchen in die Geschichte. Jedem anderen traute ich das eher zu als Alice Munro, die doch sonst kein Wort zu viel sagt. Dass Gail den einen Brief stehlen konnte, der ihre eigenen Briefe unter falscher Identität erst ermöglicht, war ein gewaltiger Zufall, wie in der Geschichte selbst deutlich wird, und überzeugt ebenfalls nicht ganz. Auch dass genau die passende Wohnung für sie freiwird.

  • Assoziation: Auch in der Munro-Geschichte Halt mich fest, lass mich nicht los fliegt eine Frau auf einen anderen Kontinent, auf den Spuren ihres Mannes (der hier schon verstorben ist); im Geschichtenband Glaubst du, es war Liebe?/Friend of my Youth. – Annäherung vermeintlich Unbekannter durch Briefe, wie in der Geschichte Carried Away aus demselben Buch (oben); hier und in A Wilderness Station (unten) spielt ein nicht zustellbarer Brief, den unbefugt andere lesen, eine wichtige Rolle. – Volltext PDF.

Ein Vorposten in der Wildnis – A Wilderness Station – 5,5/10:

Besteht nur aus Briefen und privaten Notizen. Zwei Brüder ziehen 1852 in nordkanadisches Neu-Siedlerland, der ältere heiratet und stirbt kurzum bei der Waldarbeit. Zur Todesursache gibt es sehr widersprüchliche Informationen, unterschiedliche Mörder kommen ebenso in Betracht wie ein Unfall, je nach Darstellung.

Zunächst klingen die Briefe und Notizen authentisch – vom Ton her wie auch inhaltlich mit interessanten Details, die realistisch wirken. Ein langer Bericht der Witwe zum vermeintlich wirklichen Hergang erscheint jedoch mit unrealistischem Ton; man hört hier scheint’s auch ungut eine feministische Agenda der Buchautorin. Wie immer einige Abschnitte viele Jahrzehnte später.

  • Assoziation: hier und in der Geschichte The Jack Randa Hotel (s.o.) spielt ein nicht zustellbarer Brief, den unbefugt andere lesen, eine Rolle. Briefe verwendet Alice Munro auch in der ersten Geschichte, Carried Away, und in der letzten, Vandals.

Raumschiffe sind gelandet – Spaceships Have Landed – 4,5/10

Die Geschichte spielt im sumpfigen,  hochwassergefährdeten Arme-Leute-Viertel der Kleinstadt Carstairs, Schauplatz der meisten Geschichten hier. Die junge Frau Eunie verschwindet spurlos, doch nach dieser Auskunft erzählt Alice Monroe länger von Eunies Freundin Rhea und von den rolligen, alkohol-positiven Jungmännern, die sich um Rheas Hand und andere Körperteile bemühen.

Das triggert Fremdschämen und klingt männerfeindlich anklagend, selbst wenn die jungen Frauen auch nicht engelgleich erscheinen. Später eine bizarre Traumszene (Raumschiffe sind gelandet) und ein willkürliches, uninteressantes Ende.

  • Assoziation: auch in der Geschichte Open Secrets weiter vorn im Buch kommt eine junge Frau abhanden. – Anders als die Buchausgabe verzichtet die in der Paris Review frei verfügbare Fassung der Geschichte auf die rund sieben Seiten über Monk’s Spelunke.

Die letzte Geschichte aus dem Band Offene Geheimnisse/Open Secrets, Vandalen/Vandals, habe ich nicht gelesen.

Axis (2011) – 7/10

Die Geschichte Axis steht nicht im Band Open Secrets; sie erschien 2011 im New Yorker (Text, Lesung und Diskussion mit Lauren Groff). Alice Monroe nahm sie nie in einen Sammelband auf. Warum? Weil sie einen Tick banal klingt und weniger Tiefe hat? Weil die Analogien vielleicht nicht ganz funktionieren?

Die Autorin erzählt von zwei College-Freundinnen und ihren Partnern; die eindrucksvollste Episode berichtet von einem unstatthaften Schäferstündchen im Elternhaus, das hochnotpeinlich auffliegt.

Es gibt eine verrätselte Traumsequenz; ein paar andere Kleinigkeiten habe ich auch nicht verstanden. Ansonsten eine unterhaltsame Teenager-Geschichte, ein paar Absätze spielen munrotypisch fünf Jahrzehnte später.

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