Auf dem Umschlag steht ihr Name. Und als sie noch in den USA lebte und auf Englisch schrieb, habe ich Jhumpa Lahiri bewundert. Hier jedoch sind viele Kurzgeschichten plakativ, dumpf anklagend, scheinbar aus einer persönlichen Kränkung heraus, oder belanglos, schlecht:
Ausländer in Rom erfahren subtile Erniedrigung oder, mehrfach, böse Gewaltattacken. Zugewanderte kommentieren die anstößige Freizügigkeit der Italiener, das Geküsse auf der Straße. Mehrfach geht es um junge Söhne, die in der Ferne studieren oder arbeiten, die fast oder tatsächlich in jungen Jahren ihr Leben verlieren, und um den Schmerz ihrer Mütter.
Kitschige Italienseligkeit verbreitet Jhumpa Lahiri also in diesen Kurzgeschichten nicht. Aber auch keine Soziologie, Demoskopie, Empirie, keinen Journalismus, kein Leben: Die Autorin verweigert keine Namen, Details, und trotz all der gut situierten oder mittellosen Zugereisten nennt sie in diesem Buch keine Orte außer Rom und Italien; sie verallgemeinert, schreibt vag, diffus:
she started dating S…. in the small wooded town where I was born
Enttäuschend zudem: Jumpha Lahiri schreibt kaum Dialoge, und die vorhandenen Wortwechsel klingen meist blutleer didaktisch. Direkt vor diesem Buch las ich Alice Munros Kurzgeschichtensammlung Offene Geheimnisse, sie ist um Klassen besser.
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Jhumpa Lahiri | Ann Tyler | Richard Ford | John Updike
Sprache:
Sank Jhumpa Lahiris Marktwert in den 2020er Jahren, oder vielleicht schon in den 2010ern? Nicht alle neun Geschichten aus diesem Band erschienen laut Nachwort zuerst in italienischen oder englischsprachigen Zeitschriften, und überhaupt nur zwei im New Yorker, davon eine parallel in Granta Italia.
Jhumpa Lahiri übersetzte ihre auf Italienisch geschriebenen Geschichten in leichtes, angenehmes Englisch ohne ein überflüssiges Wort. Drei Geschichten übertrug ihr Lektor Todd Portnowitz; sie unterscheiden sich nicht von den Übersetzungen durch die Autorin.
Die Geschichten:
The Boundary:
Arme migrantische Hausmeister-Familie betreut reiche, sorglose Gäste einer Ferienvilla. Gegen Ende ein schockierendes Beispiel für Ausländerfeindlichkeit – aus der Erinnerung gekramt, nicht in der erzählten Jetztzeit.
Die Gegensätze sind zu plakativ. Auch wenn einige Bio-Einheimische sich freundlich geben, klagt Lahiri Xenophobie zu platt an. Das dolce vita der reichen Villenmieter malt sie zu breit aus, auch wenn es vorübergehend mediterranes Feelgood generiert.
Ausgerechnet diese konstruierte, grobgeschnitzte Geschichte erschien im New Yorker und in Granta Italia. – Hier liest Lahiri den Text auf Englisch.
The Reentry:
Das Personal in der Trattoria ist ein wenig unhöflich zu ”the professor”, ein Kleinkind äußert sich noch despektierlicher. Und weil “the professor” dunklere Haut hat, kann man es als Ausländerfeindlichkeit empfinden – “the professor” ist unangenehm berührt.
Wer Jhumpa Lahiris Aussehen, Lebens- und Berufsweg kennt, liest die Geschichte als weinerliche Anklage. Sicherlich flüssig geschrieben, aber voll gekränktem Stolz. Keine Literatur.
Dies ist eine der vielen Geschichten, in denen Jhumpa Lahiri auf Namen verzichtet. Stattdessen heißt es, teils vielfach: “the professor”, “the woman in mourning” oder ”a country not far from Italy”; so entsteht Distanz, Figuren und Umgebung wirken weniger plastisch (auch wenn Jhumpa Lahiri die Ohrringe der trauernden Frau genau beschreibt; die Hauptfigur der nächsten Geschichte heisst “P”).
Ich brauche genau das Gegenteil, ich brauche konkrete Namen, Orte, Beschreibungen.
P’s Parties:
Ein Schüler liegt beim Fußballspiel vorübergehend am Boden. Der italienische Ich-Erzähler (sic) denkt an all die Gefahren, die seinen eigenen Sohn nach dessen Auszug bedrohen. Den kurzen Wortwechsel mit der Mutter des angeknockten Schülers kann er nicht vergessen, schließlich freundet sich seine Frau mit dieser Frau an.
Auf einer Party bei P mischen sich Bio-Italiener und Jobnomaden. Beim Satz
She was a foreigner, you could tell right away by her facial features
zuckte ich und erwartete bang die nächste Xenophobie-Anklage.
Sie kommt nicht. Neben der Angst um erwachsen werdende Kinder geht es um gedachte Untreue, Besessenheit mit einer fast Unbekannten.
Anlass der Überlegungen sind die Partys bei P. Irgendeinen anderen Eigennamen nennt Lahiri lange nicht, ebenso wenig wie das Land, in dem der Ich-Erzähler seinen Sohn besucht. In einer privaten Ferienvilla findet der Ich-Erzähler
many old, well loved books… marked up in pencil
Keinen Autor, keinen Titel verrät Lahiri. Stattdessen:
I started a new short story about L, set at P’s house.
Offenbar gefällt diese sterile Schreibe der Creative-Writing-Professora Jhumpa Lahiri. Und auch den Göttern am Olymp der angelsächsischen Kurzgeschichte, dem New Yorker: sie druckten P’s Parties 2023 auf zwei Ausgaben verteilt ab.
Well-Lit House:
Eine siebenköpfige muslimische Flüchtlingsfamilie hat in Rom nach schwerem Start mittlerweile eine helle Sozialwohnung. Wie üblich in diesem Buch gibt es Alltagsrassismus, zunächst beim Metzger, später zunehmend vom Nachbarmob. Wie üblich sind einzelne Bio-Italiener auch nett.
Wie üblich nennt Jhumpa Lahiri keine Personennamen, kein Herkunftsland. Wie in der vorherigen Geschichte ist der Ich-Erzähler ein Familienvater.
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Jhumpa Lahiri | Ann Tyler | Richard Ford | John Updike
The Steps:
Jeweils ein paar Seiten über unterschiedliche Frauen, Jungs, Männer oder Mädchen, die Stufen hoch- oder hinuntergehen oder dort nur sitzen – 6 nicht zusammenhängende Episödchen auf knapp 38 Seiten. Dabei verspüren die Protagonisten Unbehagen wegen der unordentlichen Jugendlichen auf den Stufen, wegen der Ausländer, wegen möglicher Diebe, Drecks und Scherben. Kehrt doch mal jemand die Treppe, ist er unhöflich. Alle diese Episoden zeigen Unbehagen, Selbstmitleid, unterdrückten Ärger. Mehrfach fallen Insektenschwärme lästig.
Weil die Figuren auf der Treppe meist in Erinnerungen und Gedanken schwelgen, glaubt Jhumpa Lahiri wohl, hier leichter mit den typischen Übeln der gesamten Sammlung davon zu kommen: es gibt keine Namen, es gibt keine Orte außer Rom (stattdessen “the screenwriter”, ”the university town”), fast keine Dialoge.
Der sechsteilige Text hat keine Handlung, selbst die einzelnen Episoden sind eher Gedankenströme. Besonders quälend “the expat wife”: sie sorgt sich wegen einer bevorstehenden Operation, erinnert Albträume und will gar nicht in Rom sein. Diese Episode hat ausnahmsweise eine ganze Seite Dialog, jedoch rein funktional, ohne Tiefe oder Pep.
The Delivery:
Hausangestellte wird Opfer jugendlicher, willkürlicher Gewalt gegen Ausländer. Falls an der Geschichte mehr dran ist als banale Anklage, ich habe es nicht mitbekommen.
The Procession:
Mittelaltes Ehepaar mietet in Rom ein AirBnb für sechs Wochen, um die Stadt zu erkunden. Die Frau ist jedoch überwältigt vom Schmerz über den Tod ihres Sohnes, der vor knapp 12 Jahren im Alter von 12 Jahren bei einem Unfall starb; sie irritiert ihren Mann und den Leser mit Stimmungsschwankungen.
Wer Schmerz und Trauer mag, findet Gefallen an The Procession. Ein wenig angedeutete Ausländerfeindlichkeit schaffte es auch in die Geschichte, vermutlich könnte man in dieser Kurzgeschichte von Touristenfeindlichkeit reden. – Aufdringliche Trauer um einen verstorbenen Zwölfjährigen gibt es auch in Ann Tylers Reisen des Mister Leary.
Notes:
Zuwanderin lebt seit über 20 Jahren in Rom, zog dort Zwillinge groß, die mittlerweile weit entfernt arbeiten. Sie schuftet in einer Näherei und stundenweise als Pausenaufsicht in der einstigen Schule ihrer Söhne – dort begegnet ihr natürlich Ausländerfeindlichkeit.
Auch dieser Geschichte serviert unvermeidlich fiese Ausländerfeindlichkeit gegenüber braven Menschen, und sie verzichtet auf alle Details, auf Namen, auf das Herkunftsland, auf den Wohnort der Sprösslinge (stattdessen nur ”in small island towns”). Für entscheidende Momente sorgen wunderliche Zufälle.
Dante Alighieri:
Schau an, eine melancholische Liebesgeschichte über mehrere Jahrzehnte und zwei Kontinente ohne Ausländerfeindlichkeit. Zwar gibt es auch hier Rom und – mutmaßlich – die US-Ostküste sowie – mutmaßlich – ein Land im globalen Süden, aber das spielt fast keine Rolle und wirkt aufgepfropft. Lahiri bringt einige Sätze kursiviert auf Italienisch, die ich nicht verstehe; und sind sie von Dante?
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Jhumpa Lahiri | Ann Tyler | Richard Ford | John Updike
Bücher bei HansBlog.de:
- Westliche Länder: Gute Belletristik oder gute Sachbücher oder westliche Bücher insgesamt
- Romane aller Länder: Die guten (7+ Sterne), die annehmbaren (4 – 6 Sterne), oder alle
- Bücher mit Humor: Alle oder nur die guten
- Sachbücher: Alle (oder nur die guten) oder alle aus Europa
- England-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- USA-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- Deutschland-Romane: Die guten, die annehmbaren, oder alle
- Indien-Romane: Die guten oder die annehmbaren oder alle
- Alle Kurzgeschichten-Bände (oder nur die guten)