Der Roman ist spannend und stilvoll geschrieben, aber mit Mängeln in der Konstruktion. Die perfekte Netflix-Serie: schöne reiche Leute und Häuser; stets ein Hauch von Bedrohung, Verbrechen, Sex und Fremdschämen; alles käuflich, fake, cool; ein Cliffhänger jagt den nächsten.
Billig nur, dass Emma Cline das ganze Buch hindurch die Bedrohung durch Dom erwähnt, ohne Näheres zu verlauten (Dutzende Seiten lang verschwindet die Bedrohung grundlos, die Auflösung am Ende enttäuscht). Das je nach Bedarf halbkaputte Handy überzeugt als Requisite nicht.
Während Emma Cline die Winkelzüge ihrer Hauptfigur oft nachvollziehbar schildert, klingt die Hauptannahme unrealistisch: Nach ihrem Rausschmiss und einem Diebstahl bei Simon glaubt Protagonistin Alex gegen jede Wahrscheinlichkeit, Simon würde sie fünf Tage später bei einer Party wieder aufnehmen, und sie müsse sich bis dahin nur bei Unbekannten durchschnorren. Weitere unbegreifliche Selbsttäuschung gegen Ende des Buchs kommt hinzu. Sonst schätzt Alex die Männer realistischer ein.
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Pharmazeutische Industrie:
Auch Alex’ Konsum von allerlei Pharmazeutischem, Koks und Alk erklärt ihre eklatanten Fehleinschätzungen nicht. Oder betäubt die Autorin ihre Protagonistin fortwährend, damit diese sich benebelt heikel verschätzt und so die Spannung hoch hält? Auf den dramatischen letzten Seiten entscheidet sich ihr Schicksal; doch hier bedröhnt sich die Hauptfigur vernunftwidrig mit gleich drei Tabletten – das macht die Geschichte vielleicht spannender, aber nicht realistischer.
Diese Konstruktion überzeugt nicht wirklich. Und klinisch Kranke – falls Alex das ist – eignen sich nicht als Hauptfigur. Zudem, was sollen Alex’ unterhaltsame, aber überflüssige Diebstähle bei Gastgebern, deren Wohlwollen sie noch braucht? So blöd ist sie die Meistermanipulateurin nicht.
Aber Hauptfigur Alex ist eine Fiese – sie lügt, stiehlt, schnorrt, hurt, betäubt sich, ist streng humorlos egozentrisch; typisch für wen oder was? Die meisten anderen Akteure schließt man auch nicht ins Herz, es gibt nur zwei etwas verlorene Fastgutmenschen, Jack und Nicholas. Die Figuren wirken so selbstsüchtig und/oder kaputt, dass man sich fragt, warum sie dauernd Partys feiern.
Verblüffend, dass soziale Medien, Sextoys und Pornos im Roman weitgehend fehlen – im Kontext würde man das erwarten.
Süffig getextet:
Wenn es gut läuft, macht sich Alex zum hübschen Accessoire geldiger Männer, ein akzeptabler Escort, ein
inert piece of social furniture
Etablierte Ehefrauen sind “domestic totems”.
Immer wieder kritisiert Emma Cline süffig maliziös, etwa Party-Smalltalk:
A conversation performed as a smooth transaction – a silky back-and-forth without the interruption of reality. Most everyone preferred the story. Alex had learned to provide it… People just wanted to hear their own voices, your response a comma punctuating their monologue
Auch sonst formuliert Cline beiläufig gut, in diesem Beispiel sucht die Protagonistin dringend eine plausible Antwort:
Alex stared at Simon, trying mentally to pedal for some traction, but there was nothing… even as she felt her eyes get wet, there was a catch, a self-consciousness, an asterisk on any sincere feeling
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Maybe she was. But maybe not:
Emma Cline schreibt flüssig und teils zu breitbeinig lässig – wuchtet ein oder zwei Stummelsätze in einen einzigen Absatz. Manchmal übertreibt die Autorin ihre Coolness, hier ein Beispiel, ein ganzer Absatz:
Maybe she was imagining it. But maybe not.
Der zweite “Satz” gehört weg. Viele weitere Zwei-Stummelsatz-Absätze folgen:
There. Immaculate.
Well, she thought, okay. Okay.
Ein anderer vollständiger Absatz:
You were the exception, until you weren’t.
Diese Konstruktion ist zu ausgelutscht.
Erfolgsautorin Cline hat auch interessante Verben:
- to peace out of reality
- to disappear the flaws
Was macht die deutsche Übersetzung daraus?
Leichte Kost:
Der Roman liest sich jederzeit wie Zuckerwatte, leicht verdaubar zerlegt in flockige Kapitelchen und Unterkapitelchen. Notfalls zerteilt Emma Cline sogar einzelne Sätze leichter konsumierbar: Sie schreibt nicht etwa
Over the next course, Alex watched Theo’s friends trickle in
sondern
Over the next course, Alex watched them trickle in, Theo’s friends
Wiederholt verzichtet Emma Cline auf den dramatischsten Moment einer Begegnung, etwa auf den Rausschmiss der Protagonistin – die Autorin erzählt die Vorgeschichte, und im nächsten Absatz ist Alex bereits allein und ohne Behausung.
Hat Cline die geschickt weggelassenen Sätze einst geschrieben und gestrichen oder schon im ersten Entwurf darauf verzichtet?
Emma Cline schreibt immer aus Alex’ Perspektive, blickt nur in Alex’ Kopf – aber sie bleibt personale Erzählerin, schreibt “sie“ statt “ich”. So wirkt Alex noch einsamer, man kann sie nüchterner betrachten, sie wirkt derangierter als bei einer Ich-Erzählung.
Der große Mittelteil des Buchs reiht Episoden fast unverbunden aneinander: Alex muss fünf Sommertage lang immer neue Leute auftun, die ihr ein Dach dem Kopf bieten, etwas Essen und Betäubungsmittel. Überall hinterlässt sie verbrannte Erde. Die Verbindungen zwischen den Episoden sind dünn; viele Akteure tauchen ein paar Dutzend Seiten lang auf und verschwinden für immer – Margaret, Nicholas, Dana, Robert.
Assoziation:
- Das Macho-Geschreibe mit den Stummelsatz-Absätzen erinnert gelegentlich an Tom Wolfe, der freilich auch grobe Machofiguren drumherum schnitzt (von Don Winslow nicht zu reden)
- Laut Wikipedia wurde der Roman teils von John Cheevers Kurzgeschichte Der Schwimmer inspiriert – bei längerem Nachdenken komme ich auf ein paar Parallelen: die vielen Swimmingpools; das Weiterziehen von Station zu Station mit einem unrealistischen Ziel
- Coolness und Verlorenheit erinnern an den jüngeren Jay McInerney
- Auch die Romane Cold Spring Harbor von Richard Yates und Der große Gatsby von Scott Fitzgerald spielen auf Long Island, ebenso wie teilweise Long Island von Colm Tóibín
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