Buchkritik: Unser Deutschlandmärchen, von Dinçer Güçyeter (2023) – 7/10

Türkische und griechische Ich-Erzähler berichten in authentischem Ton (wenn auch einander zu ähnlich) vom Leben in Deutschland seit den späten 1970er Jahren: Die Griechin mit dem türkischen Namen Zeynep beschafft der schwangeren Türkin Fatma (Dinçer-Mama) heiß begehrte Maiskolben, und das im Januar; Amtsrichter Hoeke bringt en passant den jugendlichen Dinçer nach Istanbul sowie in den Literaturbetrieb und die Familie Güçyeter aus dem Finanzschlamassel heraus; selbst die sommerliche Autofahrt von Nettetal nach Anatolien klingt klischeefrei.

Dinçer Güçyeter schaufelt viele weitere Details hinterher, fast immer konkret, kaum verallgemeinernd, selten anklagend oder politisierend.

Was für ein Gegensatz zu den bio-deutschen Säuslern am Buchmarkt, die ein “daß” für ein Statement und ihre Familie für das Wichtigste halten. Haben die in Leipzig säuerlich geguckt, als es “Dinçer Güçyeter” hieß?

Im Oktober 2024 gab es scheinbar keine einzige Übersetzung dieses bemerkenswerten “Deutschlandmärchens”; die Amis und Engländer lesen wohl lieber, wenn schon aus Deutschland, die kultivierte Jenny Erpenbeck (oder Heine?).

Verblüffend, selbst die Brandanschläge von 1992 und 1993 (warum 1993 zuerst?) erscheinen zunächst fast unpolitisch und knapp im Text – “fuck this fire jo jo”. Später liefert die Figur Fatma eine bewegende Rede über die Angst nach den Brandanschlägen von Mölln und Solingen.

Unverhoffte Wohltat noch, Güçyeter verzichtet auf reißerisches historisches Präsens. Diese Schreibe macht überwiegend Laune, „Autofiktion“ ist hier mal kein Schimpfwort. Allerdings textet Güçyeter auch sehr

Körperfunktion-positiv:

Körperliches benennen alle Ich-Erzähler, gern auch die Frauen. Von Fatma vernehmen wir:

Alles, was in meine Scheide fließt, soll keimen… nichts anderes als Spielen, Saufen und Ficken im Kopf… tragen ihr Gehirn im Schwanz…

Andere sagen:

meine Oma, was macht sie da mit meinem Pipimann, jetzt zieht sie noch… ich habe verkackt! … mit nem Fick wird es, glaube ich, nichts mehr… diese Schwanzwelt…

Der Autor sollte noch expliziter formulieren, Konventionen, Schamempfinden und Sitten der Sauerkrautaltrepublik noch härter dekonstruieren – wie er es wohl gelernt hat beim Hausmeistern im Puff von Onkel Mustafa, beim Pornos-Raubkopieren in der Türkei und bei den Nachtmenschen, die in der Kneipe des Vaters Yilmaz strandeten.

Für seine zero-taboo-Politik erhielt Güçyeter den Leipziger Buchmessepreis 2023. Die kurzen lyrischen Einsprengsel im Buch könnte der Huchel-Preis-Träger indes weglassen und durch weitere F-Wörter ersetzen: Ab Seite 126 von 210 wird es zunehmend  lyrisch/getragen/hermeneutisch, sogar literarisch wertvoll, ich musste das übergehen, werde Prosa von Lyrikern fortan doch meiden.

Zu viel herum reitet Güçyeter auf den ewigen, schmerzenden Ausreden der vielen säumigen Schuldner und auf weiblicher Güte, vor allem von Mutter Fatma und ihren Nächsten.

Sprache:

In den sachlichen berichtenden Teilen – überwiegend in der ersten Buchhälfte – fesselt die unmittelbare, leicht kurzatmige Sprache, nie betont falsch oder „kanak“ – gelegentlich hübsch bildreich wie über den verschuldeten Vater und dessen Stolz auf den Neugeborenen:

Die Schulden werden vergessen, die Geburt eines Sohnes macht ihn zum Sultan. Zu einem Sultan mit nacktem Hintern!

Oder das Gefühl der Arbeitsmigrantin:

Wenn du auf diesem Planeten nur ein Baum ohne Wurzeln bist, wie weit kannst du deine Äste strecken?

Gelegentlich wundert man sich (in meiner 2023er 5. Hardcoverauflage aus dem Mikrotext-Verlag):

((Seite 21)) Weder ein Herd noch eine Kanne gibt es

Es ärgerte dich, dass sie noch nicht draußen vor der Tür stand, drücktest fest auf die Hupe, sie öffnete die Schiebetür.

…könnte ich mich von dem Kind verabschieden. Das gleiche Kind schreibt heute… ((S. 88, gemeint ist dasselbe))

Auf Seite 16 heißt es mal „Mehmet Ali“, mal „Mehmed Ali“ (gemeint ist dieselbe Person).

Auch nicht prickelnd (Seite 159):

Obwohl diese Wünsche ((nach himmlischer Liebe)) jeden Tag wie die tausend Scherben eines heruntergefallenen Glases auf dem Boden herumlagen, wurde diesen Wünschen nie der Rücken gekehrt.

Sowas wird bepreist? Und wo blieb Wolfgang? Wolfgang prüft doch alles, sagt Güçyeter:

Meistens liest Wolfgang, mein Freund, die Texte als Erster, bevor sie irgendwo veröffentlicht werden.

Hier wohl nicht.

Koryphäe in the Ghetto:

Im Buch betont der Autor, “geboren 1979 in Nettetal”, dort aufgewachsen im türkischen ”Ghetto”, er ringe noch als Erwachsener mit dem Deutschen:

Selbst heute kommt es vor, dass ich die Artikel durcheinander bringe… irgendwie habe ich es geschafft, dieses Ghetto bis in die Gegenwart zu tragen

Trotzdem rühmt die Familie schon den kleinen Dinçer als Deutsch-Koryphäe; ein Fremder könne beim Zuhören denken, er

sei jetzt Oxford-Absolvent

Eine überraschende Zuschreibung für einen vermeintlichen Türkisch-Deutsch-Übersetzer.

Dass der Autor in Kinderjahren auch eine “Türkischlehrerin” hatte, erfahren wir erst im Nachhinein – wie vieles andere auch: Dinçer Güçyeter erzählt betont episodisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, so unterstreicht er die packende Subjektivität des Texts.

Assoziation:

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