Buchkritik: Ströbele. Die Biografie, von Stefan Reinecke (2016) – 7/10

Ex-taz-Journalist und Schily-Biograf Stefan Reinecke schreibt flüssig und nicht als Ströbele-Fanboy, auch wenn er Ströbeles Anliegen wohl überwiegend teilt. Um Seite 157 weist er ihm aufwändig mangelnde Distanzierung vom Antisemitismus seines Mandanten Dieter Kunzelmann nach; ab etwa 1989 folgt mehrfach heftige Kritik.

Nichts Privates:

Reinecke interessiert sich nur für den öffentlichen und politischen Ströbele “zwischen Anwalt und Genosse“. Als Menschen lernen wir den erwachsenen Ströbele nicht kennen: von Liebe, Freundschaften, Kinderwunsch, eigener Familie, Geld, Hobbys oder Privatem hören wir praktisch nichts, kaum etwas von von seiner Anwaltspraxis außerhalb der Politik. (Ströbele ist laut Reinecke “passionierter Eisesser” und “finanziell unabhängig”; ein bisschen Einkommen steht online.) Ströbeles langjährige Ehefrau Juliana erhält in der Biografie weit weniger Zeilen als Onkel Herbert Zimmermann, anders als der Radio-Promi erscheint sie auch nicht im Bild.

Erst im kurzen Epilog ab Seite 447 plaudert Reinecke nebenher aus: Ströbele ist

seit fast 50 Jahren verheiratet… Die Liebesbeziehung zu seiner Freundin währt nicht Jahre, sondern Jahrzehnte

Was heißt das, und warum gibt es dazu nicht mehr als diese Sätze im Epilog? Dass Ströbele mit einer anstrengenden Chemotherapie Krebs überwand und deswegen zitternd im Bundestag saß, erscheint auch erst im Epilog.

Ströbeles Eltern lernen wir in seinen Jugendjahren durchaus kennen; doch nachdem Christian auszieht, berichtet Reinecke über die Eltern nichts Neues, nicht mal den Tod (er zieht nur gelegentlich Parallelen zwischen Ströbele und seinen Eltern, sogar noch in den 2010er Jahren). Mehr als Ströbeles Privatleben interessiert den Biografen die politische Landschaft, in den frühen Kapiteln vor allem Reaktionäres in Politik und Justiz.

Irgendwann:

Reineckes Buch erschien 2016. Auch nach Ströbeles Tod 2022 scheint eine aktualisierte Neuauflage nicht in Sicht, Stand Oktober 2024. Im taz-Literaturcafé äußerte Ströbele Unbehagen an Reineckes Biografie, und er sagte zudem der FAZ:

Irgendwann werde ich mich hinsetzen und eine Autobiographie schreiben – und die Unterlagen, die ich aufgehoben habe, einbeziehen. Es wird wohl ein sehr dickes Buch.

Daraus wurde meines Wissens nichts. Diese erwähnten Unterlagen, die Biograf Reinecke nicht einsehen durfte – was wurde daraus?

Verleugnete Gefühle:

Manche Autoren monieren ermüdend bei jedem Text mangelnden Feminismus, Antikolonialismus, BLMismus oder LGBTQXYZismus; Ströbele-Biograf Reinecke klopft in den frühen Kapiteln jede Figur streng auf Nazismus ab und diagnostiziert eine

tiefe (und in den 50er-Jahren oft verleugnete) Gefühlsbindung vieler Deutscher an Hitler

Die Berliner Studentenunruhen von 1967 bis 1969 mit den Attentaten gegen Ohnesorg und Dutschke schildert Reinecke aus linker Sicht und weit ausführlicher, als es eine Ströbele-Biografie erfordert – denn Neuberliner Ströbele blieb bei den Unruhen “nahezu unsichtbar”, wie Reineke selbst schreibt; auch die revolutionären Ansichten der Studenten erklärt der Biograf später für überzogen. Allerdings betont Reinecke ab 1989 mehrfach, Ströbele beharre auf den Werten von A1968.

Andere Themen schildert Reinecke ebenfalls weit über Ströbeles direkte Beteiligung hinaus, so die Baader-Meinhof-Prozesse oder die taz-Gründung. Wer sich jedoch für Zeitgeschichte aus linker Perspektive interessiert, liest das gerne (selbst wenn Reinecke den Grünen mindestens zweimal breit gestreute ”Hysterie” vorwirft).

Wer vor allem von Alternativer Liste und den Grünen hören wollte, wundert sich vielleicht: Richtung Parteipolitik geht es erst ab Seite 277.

O tempora o modi:

Zu Beginn war ich irritiert: Reinecke ist schnell in den 50er Jahren, springt dann aber zurück in den Krieg, danach sogar in die 1930er, und scheint einige Seiten lang eher den Ströbele-Onkel und polyglotten Sportreporter Herbert Zimmermann zu biografieren.

Reinecke schreibt flüssig in historischem Präsens, das gelegentlich irritierend ins Futur, Präteritum oder Plusquamperfekt kippt, etwa auf Seite 157 über Dieter Kunzelmann:

Der neue Feind soll Israel sein. Damit scheitert er. Die Linksradikalen reagierten mit doppelter Ignoranz: Sie folgten Kunzelmann nicht, realisieren aber auch nicht, wie skandalös …

Präteritum, Präsens und Futur tanzen auf S. 268:

Staatsanwalt Przytarski stand schon bei Ströbeles Festnahme 1975 zu Diensten, auch am 19. Januar 1982 legt er selbst Hand an. Da ist es nur ausgleichende Gerechtigkeit, dass der Staatsanwalt Mitte der 90er wegen Falschaussage unter Eid auch mal auf der Anklagebank wird Platz nehmen müssen.

Und S. 342:

Wenn es um Deutschland ging, stimmt ((sic)) die CDU-Opposition mit der SPD.

Pro bono, contra malum:

Charmiert hat mich Reineckes Sprache nie – umständliche Konstruktion, Wortwiederholungen, semantisch knapp daneben, zu salopp, abgehangen, redundant:

ohne Hemd mit nacktem Oberkörper… nach fast mehr als eineinhalb Jahren…

Gelegentlich schreibt Reinecke unerklärt “Doublebind-Situationen”, “aggressive Selbstviktimisierung“, “hypertroph”, “Offizialdelikt”, “Pro bono, contra malum” oder “Affirmation”. Andererseits sagt er dem Leser ernsthaft, was “Büttel” bedeutet.

Mehrfach fand ich die Formulierungen umständlich, so etwa diese Bildunterschrift:

Die Ströbele-Geschwister heute: Herbert, Helga Reindel, Gudrun Behrens-Hardt, Christian. Auf der Rückseite der Fotografie von 2013 schlägt Herbert…

Warum schreibt Reinecke nicht kompakter:

„Die Ströbele-Geschwister 2013: Herbert, Helga Reindel, Gudrun Behrens-Hardt, Christian. Auf der Rückseite der Fotografie schlägt Herbert…“

So braucht es nur eine Zeitangabe. Und das Wort „heute“ in einer Biografie ist ein No-no – Jahre nach dem Erscheinen weiß keiner genau, was „heute“ meint, es klingt zumindest falsch, nur absolute Zeitangaben sind zugelassen.

Noch eine zu umständliche Konstruktion:

Das entspricht dem Bild, das Hans Dahs zeichnet, Autor vom Handbuch des Strafverteidigers

Warum nicht kompakter:

„Das entspricht dem Bild, das Hans Dahs im Handbuch des Strafverteidigers zeichnet“

Das sind Ausnahmen im glanzlos flüssig dahingleitenden Text. Andere deutsch geschriebene Sachbücher klingen schlechter.

Nur gelegentlich freute ich mich über Formulierungen:

Bei der RAF ortet Stefan Reinecke

die kryptischen, aus marxistisch-leninistischem Wortgeröll verfassten Erklärungen

Er hat im Sprengstoffdepot Streichhölzer angezündet, um mal zu schauen, wie es dort aussieht.

Der mit Direktmandat, unabhängig von der Partei, in den Bundestag gewählte Ströbele ist für seinen Biografen ”der freie Radikale”.

Hauptfigur schreibt mit:

Wie etwa bei Biografien zu Winston Churchill oder Barack Obama profitiert auch das Ströbele-Buch von Humor und Selbstironie der Hauptperson, ebenso wie natürlich vom bewegten Leben in bewegter Zeit und Umgebung. Wenn Reinecke seine Schreibe selbst durch nur wenige Perlen auflockert, so schaffen dies einige Zitate von Ströbele und Zeitgenossen: Reinecke sagt über Ströbele, Witz zähle “nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften” und er sei ”kein stilistisch begabter Autor”; doch ein paar drollige Zitate, Aktionen und willkommene Unkonventionalität steuert Ströbele zum Buch bei.

An jedem Kapitelende deutet Reinecke kurz das Kommende an, es wirkt auf Dauer mechanisch. Reinecke beschreibt ein langes, ereignisreiches Leben und beleuchtet immer auch die politische Landschaft drumherum – solche Biografien klingen fast zwangsläufig heruntergeleiert; Ströbeles Agieren bei der Wiedervereinigung und seine Rückkehr auf die Bundesebene Anfang der 90er – nach dem AL-Hin-und-Her in Berlin – wirken auf mich im Buch hingehuscht, aber ich habe auch keine Ahnung.

Immerhin bringt Reinecke mehrfach reflektierende Zwischenkapitel, quasi Kommentarspalten: Ausführlich diskutiert er Ströbeles Verhältnis zum staatlichen Gewaltmonopol und zur deutschen Schuldfrage mit vielen Textbelegen und sehr kritischen Verdikten, ebenso Ströbeles Kreuzberger Politik des Straßenwahlkampfes. (Laut taz- und Spiegel-Mann Michael Sontheimer ist Biograf Reinecke “der inoffizielle Chefkommentator der “‘taz'”.)

Przytarski tritt ein Schritt zurück:

Tippfehler fielen mir nicht auf, Grammatik- und Sinnstolperer schon:

Doch außer ein paar Briefumschlägen, die an Baader und Astrid Proll adressiert sind, Notizen von Mahler und zwei Kalender ((sic)) … finden sie nichts.

Der Pseudomieter, der manchmal verschlafen in der Küche auftaucht, und seine Frau, eine Malerin, die er mitunter misshandelt, heißt Andreas Baader, der zehn Jahre später Staatsfeind Nummer eins und Ströbeles Mandant sein wird.

((S. 205)) Przytarski tritt ein Schritt zurück

((S. 441)) Doch auf Ströbele scheint der Alltag in Kreuzberg die Wirkung zu haben, auf die andere Zeitgenossen Wellness, Fußballgucken oder ein Glas Weißwein hat.

…eigenhändig den Mord an Dutzenden befehligte

Er ist 1968 und 2016 in vielem der gleiche geblieben… er hat 1968 und 2016 die gleichen Überzeugungen ((korrekt zweimal ”selbe”))

Auf Textdruckpapier erscheinen einige kleinere Fotos in brauchbarem Schwarzweiß, viele interessante Figuren erscheinen nicht im Bild. Ein Wahlplakat von Seyfried für Ströbele lobt Reinecke ausführlich, ohne zu erwähnen, dass es erst dutzende Seifen später gezeigt wird. Ein Gruppenbild auf Seite 132 zeigt zur Hälfte nackten Fußboden – den hätte man wegschneiden und den Rest größer aufziehen sollen. Eine Zeittafel fehlt, der Anhang ist sehr dünn.

Assoziation:

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