Fazit:
Ja, Martin Kordić kann es: Sein Roman fesselt zunächst mit der semi-subtilen Annäherung von Professorin Martha Gruber, 40 an den armem Migrantenjungen „Jimmy“, 15. Und Martin Kordić vergeigt es: Ab der Buchmitte gibt’s von dem wunderlichen Paar nur noch wunderliche snippets; der Ich-Erzähler bejammert v.a. die Verachtung der Biodeutschen für die Kroaten, obwohl die doch alle Drecksarbeit erledigen; dazu bizarres, peinliches Jungmännergewuhre. Zurück bleibt ein schlechter Geschmack im Mund, aus mehr als einem Grund.
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Teil-weise:
Im “Ersten Teil” ist der Ich-Erzähler das arme Migrantenkind “Jimmy”, 15, dem sich die bürgerlich-liberalen Professorin Martha Gruber, 40, annähert.
Im “zweiten Teil” studiert der Ich-Erzähler. Er schildert seine zwei Lebensmenschen – weiterhin Professora Gruber sowie den Uni-Dozenten Donelli, zugleich Freund und Arbeitgeber. Beide Beziehungen wirken nun teils verrätselt, beliebig. Teil 3 überfrachtet Kordić mit zunehmend aggressivem Kroaten-versus-Deutsche.
Dominanz bedeutet Füreinander:
Martin Kordić beschreibt im ersten Teil sehr genau und erzeugt so Spannung. Auch die Dialoge sitzen.
Im zweiten Teil betont der Ich-Erzähler Marthas Führungsrolle. Zu aufdringlich kommt das Thema spätestens in diesem Abschnitt:
Ich lernte, dass Dominanz ein starkes Füreinander bedeuten kann, wenn die Unterwerfung freiwillig geschieht und beide Seiten das gleiche Ziel haben: das sichere und gemeinsame Erreichen eines Hafens bei gleichzeitigem physischen und psychischen Wohlergehen aller Beteiligten
Kordić meint hier keinen “Hafen” am Wasser. Aber Nautik sattelt der Autor später aufdringlich darauf – beim Segelkurs auf Anweisung von Martha: In der täglichen Segelkurs-Nachbesprechung ging es
nicht um Techniken des Segelns…, sondern allein um die Dynamik zwischen der Person, die auf der Jolle geführt hatte und der, die den Kommandos gefolgt war
Mir wurde das zuviel, im zweiten Teil kam ich nicht mit, dieser Autor führte mich nicht.
Zwei-Personen-Sekte:
Zwischen dem Studium des Ich-Erzählers in München und Marthas Professur in Heidelberg gibt es keine Verbindung; die zwei irgendwie Liebenden wollen nie länger als ein paar Tage gemeinsam verbringen – gern auf Juist – oder auch nur am selben Ort wohnen.
Das Sexuelle kommt detailliert, und es nimmt wunder, lässt an eine Zwei-Personen-Sekte denken. Diverse andere Sexbegegnungen schildert Ich-Erzähler als betont belanglos.
Wie Donelli, der spätere Freund und Chef des Ich-Erzählers, diesen nach einem Fahrraddiebstahl im Balkan-Grill aufspüren konnte – entscheidend für den Roman – ist mir unklar, ebenso die weitere Beziehung der beiden und warum sich “Scharlatan” Donelli jahrelang als Unidozent und Prüfer halten konnte und warum der Ich-Erzähler seine akademische Karriere von diesem “Scharlatan” abhängig macht.
Wir erfahren weiterhin nicht, was Martha Gruber lehrt und ob sie überhaupt je an ihren Beruf denkt. Die Vagheit des Verfassers nervt. Er schreibt hier so schwammig, dass die robusten Gartenbaudetails aus Teil 4 aus einem anderen Buch stammen könnten. Die nicht nachvollziehbare Interaktion der Hauptfiguren im zweiten und der Mischmasch im dritten Teil befremden.
Es entsteht auch kein Sinn für Spielorte wie Juist oder München (den Münchner Tukanpreis gab’s trotzdem). Plastisch schildert Martin Kordić lediglich das Milieu der Ludwigshafener Gastarbeiterfamilie im ersten Teil und Marthas Bildungsbürgervilla.
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Anspannung:
Dagegen der erste Teil – “Jimmy” 15, sie 40: Das prickelt wie Brausepulver auf der Zunge im Sommer. Zwar wissen wir nur von Werbetexten, nicht aus frühen Buchseiten, dass die zwei Ungleichen dabei sind, eine Grenze zu überschreiten. Der Roman plätschert zunächst harmlos – aber gut beobachtet – dahin.
Ist das literarisch wertvoll? Ich weiß es nicht. Ist es politisch korrekt? Bestimmt nicht. (Alte weiße Frau vernascht minderjährigen people of colour.)
Ist es spannend? Auweia:
Ab Seite 1 knistert es, die Dialoge funkeln gefährlich. Das liest sich wie höchstpersönlich erlebt. Die Mesalliance des Teens mit Professora Gruber sowie ein ebenso ungehöriger Fahrraddiebstahl halten den Leser in Atem.
Gelegentlich überraschte mich im ersten Teil das robuste Selbstbewusstsein des jugendlichen, migrantischen und armen Ich-Erzählers; ganz unmöglich ist es nicht.
Viele Rezensenten sind von diesem Roman auf Anhieb gefesselt. Ich war auch zunächst angefixt. Die Frage ist nur, ob die Begeisterung anhält.
Sprache:
Hanser-Lektor Martin Kordić schreibt highlightfrei gut lesbar. Tippfehler fand ich nicht, jedoch verwechselt der Autor immer wieder “gleiche” und “selbe”, u.a. hier:
… aus dem gleichen Land kam wie meine Eltern… als wären wir nicht Teil der gleichen Welt… beide Seiten das gleiche Ziel haben
Exzellent ein markanter Briefwechsel in der Buchmitte: jedes Schreiben enthält nur Schachbrettkoordinaten und ein paar genau gewählte Wörter; zusätzliche Hinweise liefern die Rechnungen und Prospekte, die als Briefpapier dienen. Ein Highlight.
Die regelmäßigen Hertha-Kräftner-Zitate befremden; der Autor nennt weitere Bücher von J.M. Coetzee und Donna Cross – als ob wir die Literaten ebenso kennen müssten wie den wiederholt erwähnten Popstar Michael Jackson.
Pickel im Gesicht:
In den ersten zwei Dritteln müffelt der Roman noch nicht unangenehm nach ”Autofiktion”. Doch später ertönen Erinnerungen an den Jugoslawienkrieg, sogar an den zweiten Weltkrieg aus Sicht des Großvaters. Warum?
Der Ich-Erzähler beschreibt sich nun als
verweinten jungen Mann… rote Flecken und Pickel im Gesicht.
Ächz.
Dann folgt die Trauerfeier für Michael Jackson. Es gibt noch eine Wanderung zur Rotwand, den erschossenen Brunobär (ganz klar Antimigrantismus), die Sommermärchen-WM, eine besoffene Gitti im Keller, genießbare Lebensmittel in Mülltonnen, illegale Autoeinfuhr nach Bosnien-Herzegowina, eine Brandstiftung beim Arbeitgeber, und und und – nichts bedeutet viel, ein Zerfasertland, sinnlose Staubfänger im Buchgedächtnis des Lesers. Schrieb Kordić diesen zusammengewürfelten “Dritten Teil” nur, um seinen Roman deutlich über die 200-Seiten-Marke zu wuchten?
Das ist der “Dritte Teil”, und der nunmehr graduierte Ich-Erzähler arbeitet als weinerlicher Werbetexter. Nur gelegentliches Rainer-Langhans-Spotting auf Schwabinger Straßen muntert den angeödeten Leser auf.
Im ersten Teil klagt der migrantische, arme Ich-Erzähler gutsituierte Biodeutsche mild an. Im zweiten und dritten Teil steigern sich Vorwürfe und Selbstmitleid zur Hysterie, auch die NSU wird erwähnt – ich könnte darauf verzichten. Außer Biodeutschen begegnet der Ich-Erzähler in Deutschland praktisch nur Südslawen, die man jederzeit in der Heimatsprache anredet. Türken oder Italiener kommen nicht vor. Mehrere Personengruppen, Mahlzeiten und Namensreihen klingen aufdringlich positiv interkulturell.
Beginn mit einer Täuschung:
Was am deutschen zeitgenössischen Roman so deprimiert, praktiziert der Autor ab der Buchmitte stolz. Hätte Jahre mit Martha in dieser Qualität begonnen, ich hätte nach 50 Seiten Kordić wieder einen bewährten angelsächsischen Autor aus dem Regal gestreichelt. Weil Kordić aber mit dem trügerisch beeindruckenden Teenager-Teil beginnt, quälte ich mich auch durch den mittelprächtigen Teil 2 und das Jammertal von Teil 3; spätestens ab Seite 210 von 286 war das ein Tort.
Im kurzen vierten und letzten Teil beginnt der studierte Ich-Erzähler und Ex-Werbetexter natürlich eine Gartenbaulehre. Dann folgt ein wenig wahrscheinlicher Zufall, aber daraus ergibt sich immerhin ein rundes, melodramatisches Ende, mit multikulturellem Familienglück und Kaninchen. Wenn sie nicht gestorben sind, streicheln sie noch heute.
Assoziation:
- Das Geseiche in Teil 3 erinnert an andere Jungmännerschreiber wie Christopher Kloeble oder Reinhard Kaiser-Mühlecker und an Leipziger Literaturmechatronik (Kordić studierte bei der Hildesheimer Konkurrenz)
- Entfernt Peter Maffays Coming-of-age-Schnulze “Und es war Sommer” (wie im Roman-Teil 1) mit der Zeile “Ich war 16 und sie 31” (fast wie im Roman)
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