Intention der Autorin:
Laut Vorwort plant die Oxfordprofessorin Lyndal Roper “eine psychoanalytisch beeinflusste Biographie”, sie möchte “Luther selbst verstehen”, “seine Seelenlandschaft”, und nicht nur seine theologische Entwicklung nachzeichnen. Ropers Vater war “einige Jahre lang Pastor einer presbyterianischen Gemeinde” in Australien. Roper über sich:
Ich bin kein Kirchenhistoriker, sondern eine Religionshistorikerin, die von der Sozial- und Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte und insbesondere von der Frauenbewegung geprägt ist.
Elisabeth von Thüringen aus dem 13. Jahrhundert war für Roper “eine wunderbare subversive Frau”. Roper interessiert sich für “zentrale psychologische und emotionale Muster in Luthers Leben”, und zum Vater-Sohn-Konflikt zwischen Luder und Luther sagt sie, “nach Freud sind ödipale Kämpfe universell ((…))”. Mal bewundert Roper ihren Gegenstand, dann unterstellt sie ihm “Gehässigkeit”, “Fäkalrhetorik” und stellt seine Judenfeindlichkeit heraus.
Erst der Wegfall des eisernen Vorhangs, sagt Roper, erlaubte umfassende Lutherforschung, sie verbrachte viel Zeit in Wittenbergs Archiven und Gassen.
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Zeitkolorit:
Die Zeit wird bei Lyndal Roper (*1956) einigermaßen lebendig, ebenso Luthers Milieus. Wir erfahren, wie in Mansfelder Wirtshäusern die Bierkrüge flogen und welche Zwänge Luthers Vater zwackten. Wir erfahren, dass der Wittenberger Lucas Cranach der Ältere, “der schnelle Maler” und Luther-Freund, auch geschäftstüchtig mit Wein und Pharmazeutischem handelte. Auf der Wartburg verbrachte Luther zuweilen “sechs Tage, ohne dass sein Darm sich rührte”, zu schweigen vom “Urinieren in Messkelche” anderer Leute.
Gleichwohl klingt die Kindheit irgendwie vag, irgendwelche inhaltlichen Schwerpunkte gibt’s nicht, plötzlich bricht Luther das Studium ab und geht ins Kloster, aber warum?
Und plötzlich ist es der 31.10.1517. So richtig ein Gefühl für den Fortgang der Zeit bekam ich nicht. Wie sich die Thesen in Luther entwickelten, erfahren wir erst später. Zu lesen bekommen wir sie gar nicht, auch nicht Luthers Appelation vom 22. Oktober. Auch warum der Vater “Luder”, Luther aber “Luther” heißt, klärt Roper erst um Seite 150 herum – obwohl sich die Frage ab Seite 1.
Auch Luthers Wechsel von Latein zu Deutsch hätte mich genauer interessiert, und die Bedeutung des Buchdrucks, obwohl Roper dazu einiges sagt. Dazu kommt, dass Roper nicht streng chronologisch schreibt, sondern bei einzelnen Themen gleich weit in die Zukunft blickt – je nach Bedürfnis ist das übersichtlich, aber es dämpft das Gefühl für den Fortgang der Zeit.
Religiöses:
Viel Platz widmet Roper religiösen Debatten und Gefühlen – nicht nur den Verfahren gegen Luther, sondern auch gelehrten Debatten und Luthers Religionsverständnis. Da gibt es Sätze wie
Es war diese Traurigkeit, von der Staupitz ihn befreien konnte, indem er ihm zeigte, dass Gott uns nicht wegen unserer guten Werke annimmt, sondern als Sünder.
Später kommt “das Narrativ von seiner göttlichen Erwählung”. Hier ließ meine Aufmerksamkeit nach, ich musste gelegentlich sogar fast forwarden.
Ausführlich lernen wir Luther-Weggefährten wie Johann von Staupitz und Georg Spalatin kennen, häufig nicht nur im Text, sondern auch in SW und Farbe, teils Gemälde der Cranachs. Die Exkurse zu Thomas Münzer und Karlstadt gerieten m.E. zu ausführlich und führen vom Thema weg.
Betont wenig schreibt Roper dagegen über Luthers späte, junge Ehefrau Katharina von Bora-Bora, mehr dagegen über Luthers Meinung zur Ehe und “sexistische Aphorismen”.
Deutsch:
Die Ãœbersetzung von Holger Fock und Sabine Müller klingt passabel, aber keinesfalls reizvoll, mit Skurrilem wie “Re-Lektüre der Originalquellen” (S. 20, ernsthaft jetzt?) und Fadem wie ” echte Arbeitsaufgabe” oder mehrfach “vertrat die Auffassung”. Dazu kommt Unübliches wie Studentenburse, Idolatrie, Scholaren, Baccalaureat, Birett, Monasterien, Zeloten. Das enthusiasmiert mich nicht.
Das mild spröde Deutsch überrascht gelegentlich durch Slang wie “mit ihnen herumhängen”, “klauen” (beide S. 41 a.d. regulären Erzähltext, kein Zitat), “jede Menge stille Einkehr”, “hatte keine Ahnung”.
Nur ausnahmsweise zeigt ein Satz mal Pep, wie in:
Doch Staupitz hatte den Dreh heraus und wusste, wie er aus Luthers morbidem Schwulst die Luft ablassen konnte
Dann wieder gibt’s Dativ-e (“bei Hofe”) und wegen mit Dativ (“wegen Eidesbruch”, S. 96).
Bitter, dass man eine Luther-Biografie als Ãœbersetzung aus dem Englischen lesen muss. Normal lese ich auf Englisch Geschriebenes im Original, aber ich wollte hier natürlich die Luther-Zitate auf Deutsch – auch Roper selbst sagt, Luther war ein “brillanter, fesselnd persönlicher Briefeschreiber”. (Auch eine weitere große Biografie über einen großen deutschen Sprachkünstler erschien zuerst auf Englisch, Stephen Parker über Bert Brecht (Amazon-Werbelink), die Deutschen kriegen’s wohl nicht mehr selbst gebacken.)
Laut Dankwort der Autorin hat Karl-Heinz Göttert
das Deutsch des 16. Jahrhunderts von Luther und anderen in eine Sprache…  übertragen, die für heutige Leser verständlich ist
Wir bekommen also Luther nicht original. Schade. Ich hätte zumindest gern mehr authentische Kostproben gehabt. Die Luther-Zitate bei Roper sind leicht konsumierbar. Ein wenig zeitgenössisches Deutsch liest man (in Fraktur) auf den abgebildeten historischen Schriften unterschiedlicher Autoren.
Roper liefert abgesehen vom nichtssagenden Hinweis auf ihre Zeit in Wittenberg keinen eigenen Recherchebericht, keinen Hinweis auf Neuentdecktes, auf die Quellenlage allgemein. Aber sie bedankt sich bei zahllosen Zuarbeitern und Organisationen.
Ausstattung:
Der Anhang hat rund 189 Seiten, davon an die 140 Seiten Endnoten. Die Endnoten liefern nicht nur Quellenangaben, sondern auch lange Hintergründe zum Haupttext. Die gehören jedoch direkt auf die betreffende Seite – als Fußnote oder im Lauftext – und nicht irgendwohin 300 Seiten später. Aber wem sage ich das, immer wieder.
Das Buch beginnt mit einer schönen doppelseitigen Karte zur Ausbreitung des Protestantismus ab 1517 – so detailreich und übersichtlich, wie es in Graustufen möglich ist. Es gibt viele weitere interessante Abbildungen in ordentlichen Graustufen direkt auf Textdruckpapier übers Buch verstreut, u.a. mehrere Luther-Bilder von Luther-Freund Cranach dem Älteren, außerdem zahlreiche historische Druckseiten. Dazu kommen acht Farbseiten in der Buchmitte, historische Gemälde.
Links und Assoziation:
- Die Luther-Bio von Lyndal Roper wirkt abstrakt, wissenschaftlich, geisteswissenschaftlich, für eine völlig andere Zielgruppe als das betont flotte, kurze Luther/von Bora-Buch von Nürnberger/Gerster.
- Wiki Lyndal Roper
- Rezensionsnotizen im Perlentaucher
- Rezensionsauszüge bei Bookmarks
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