Rezension Musik-Doku: Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul (2005, Regie Fatih Akin) – mit Trailer – 8 Sterne

Ein packender Streifzug durch die Istanbuler Musikszene: Regisseur Fatih Akin zeigt örtliche Musiker, wie sie in Kellern, Hamams, Parks, Kneipen, Bussen oder Konzertstätten aufspielen – live, speziell für diesen Film, in exzellenter Tonqualität. Dazwischen immer wieder Eindrücke von der Stadt, auch historische.

Alle Stile:

Einige Künstler sind in Europa kaum bekannt, aber Akin zeigt auch die türkischen Superstars Orhan Gencebay und Sezen Aksu sowie den Weltmusik-Protagonisten Mercan Dede mit seinen elektronisch-esoterischen Sufiklängen. Meist mutet die Musik dezidiert süd-östlich an, es gibt aber auch Rap, Rock und Breakdance.

Viele Akteure wirken wie Außenseiter, Straßenrocker, ein Joint kreist auch mal, die frühere Unterdrückung der Kurden und ihrer Musik wird laut angeklagt. Aber wir sehen auch plüschige Wohnzimmer, arrivierte Entertainment-Stars und eine turbulente Kneipe in der Roma-Stadt Keşan an der griechischen Grenze.

Die Namen der Künstler fallen nur nebenbei und werden im Film nicht schriftlich eingeblendet. Erst im Abspann erscheinen die Namen schriftlich, zusammen mit passenden Bildern, auch deutsche und englische Wikipedia listen die Künstler auf. Wir lernen Instrumente wie Oud und Saz kennen und erhalten knappe Erklärungen türkischer Rhythmik – doch Crossing the Bridge bietet mehr Atmosphäre als Information (BBC: “breadth over depth”).

Gut gemacht:

Die türkischen und englischen Sprecher werden deutsch untertitelt, es gibt kein störendes deutsches Voice-over – hervorragend. Keine Nummer erklingt länger als ein oder zwei Minuten, dann legt Akin Interviewausschnitte darüber, um manchmal nach ein paar Sätzen wieder zur Livemusik zu wechseln. Viel Zeit widmet Akin den klagenden Gesängen der wenigen Sängerinnen, doch ingesamt bevorzugt Prince-Fan Akin in dieser Doku pumpende, kraftvolle und gern auch rotzige Musik.

Insgesamt fließt der Film wundervoll, fesselt fast durchgehend, wohl auch, weil kaum zehn Sekunden ohne östliche Beats vergehen. Ein paar Mal wechselt Akin Tonart und Stimmung hart und drastisch – und danach fließt der Film so elegant weiter wie gehabt. Schnitt und Buch überzeugen, und nach 90 Minuten ist der Hauptfilm schneller vorbei als mancher Spielfilm von Fatih Akin.

Stimmungsvolle Bilder:

Historische Fotos und Filmaufnahmen verstärken die Atmosphäre, dazu kommen stimmungsvolle Szenen aus Istanbuls Ausgehviertel Beyoğlu. Allerdings erscheinen Bosporus und Hagia Sophia in den neu aufgezeichneten Bildern aufdringlich oft; das letzte Stück wird gar bei Sonnenuntergang auf einem Bosporus-Boot gespielt – zu postkarte.

Bei rhythmischen Nummern und Straßenszenen ist die Kamera ausgesprochen unruhig, das verstärkt den authentischen, unmittelbaren Charakter der Aufnahmen. Der Schnitt bleibt entspannt und vermeidet jede Musikvideo-Hektik (nur der oben eingebettete Trailer ist hektisch).

Unterwegs mit Alexander Hacke:

Für die Rahmenhandlung steht Alexander Hacke bereit, Bassist der einstürzenden Neubauten. Er besucht die türkischen Musiker mit Koffern voller Tontechnik, leitet die Aufnahmen und spielt gelegentlich auf E-Bass oder Gitarre mit.

Hacke hatte schon für Akins Spielfilm Gegen die Wand (2004) gemeinsam mit Istanbuler Künstlern Musik aufgenommen. Gelegentlich spricht Hacke ein paar Sätze aus dem Off, wir sehen ihn auch im Taxi oder vor dem Hotel sitzen, selten ohne Zigarette. Doch er wirkt weniger aufdringlich als andere sichtbare Sprecher in Dokumentationen.

Ich habe viele Musikdokus gesehen und kaum eine war atmosphärisch besser als diese, die viel professionelles Lob erhielt. Sie gefällt mir auch besser als Buena Vista Social Club: Akins Film ist nicht so überproduziert und Moderator Hacke erscheint weniger aufdringlich als Ry Cooder mit den Kubanern.

Die DVD hat üppige Extras, die aber nie die Qualität des Hauptfilms erreichen:

  • Hauptfilm ca. 1:30 Stunden
  • Kommentar von Akin und Hacke, gesprochen zum Hauptfilm in voller Länge (wie ein Kneipengespräch unter Kumpeln)
  • B-Seite zum Film: nicht verwendete Szenen, ca. 40:30 Minuten, überwiegend klar schwächer als der Hauptfilm, mit überflüssigem Geschwafel, aber schöne Dorfepisode ab 19:50
  • sechs Musikvideos der Künstler aus dem Film, u.a. von Sezen Aksu und Mercan Dede, teils bizarr, nicht im Hauptfilm selbst enthalten
  • Trailer zu Crossing the Bridge und schwache Photos aus BeyoÄŸlu

Akins Musikbericht entstand schon 2005. Velleicht gibt es mal ein Crossing the Bridge Again.


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