Kritik Biografie: A Tragic Honesty: The Life and Work of Richard Yates, von Blake Baily (2003) – 8 Sterne

Biograf Blake Bailey hatte offenbar perfekten Quellenzugang: Alle Kinder, alle Ex-Frauen, viele Ex-Freundinnen, Schüler, Literaturbetriebler, aber auch Kellnerinnen und Wirte redeten mit dem Biografen, sogar Richard Yates’ Psychiater packte aus. Das Archiv stand uneingeschränkt offen.

Kunst und Leben:

Wann möglich – also fast immer -, zieht Blake Bailey Parallelen zwischen Yates’ Leben und Kunst. Dabei sollte man Yates’ Geschichten möglichst gut kennen, zum Beispiel wissen, welche Figur welche Rolle in welchem Roman spielt. Für Yates’ frühe Erwachsenenjahre sind seine Kurzgeschichten sogar noch wichtiger als die Romane.

Bei solchen Fiktion-Leben-Vergleichen setzt Bailey zu genaue Yates-Kenntnisse voraus. So sagt Bailey z.B. über einen Yates-Bekannten (S. 168):

He served as the model for Ralph Morin in Young Hearts Crying

ohne die Romanfigur näher zu erläutern – zu knapp. Am besten lieferte Bailey gleich ein Register aller Yates-Bekannten und ihrer Verwendung in allen Geschichten. Auch sonst erwartet Bailey gelegentlich zu viel kulturgeschichtliche Kenntnisse (z.B. wann Arthur Miller welche Verbindung zu Marilyn Monroe hatte).

Bailey reportiert zuweilen winzige Kleinigkeiten, um dann in einer Fußnote anzumerken, dass es auch anders gewesen sein könnte. Manchmal spekuliert er, das klingt so:

S. 71: perhaps for the purpose of… probably the two marked…

S. 72: except perhaps in… one suspects he was…

Mehr oder weniger interessant:

Richard Yates (1926 – 1992) hat allerdings nur ein mäßig interesssantes Leben, das nicht unbedingt eine 600-Seiten-Biografie rechtfertigt, speziell im Vergleich zu seinen Helden F. Scott Fitzgerald und vor allem Ernest Hemingway. Yates lebte nicht nur weniger interessant, sondern teils verhält sich Yates regelrecht abstoßend, zum Beispiel mit übermäßigem Alkoholkonsum und räudigen Ausfällen schon ab der 200. von 600 Seiten Haupttext (“the steady, all-but-lethal flow of bourbon”, S. 225) – gerade, als sein Romanerstling Revolutionary Road/In Zeiten der Aufruhr mit allerlei Vorschusslorbeeren erscheint.

So versaut sich Yates viele berufliche und private Chancen per Suff, verkommt schon in jungen Jahren zum Ekelpaket und degeneriert über Jahrzehnte und hunderte Biografieseiten zum “cranky old man” (S. 505). Das quält den Biografieleser.

Zu den interessanteren Details gehören

  • die vielen angedachten Titel für Yates’ erfolgreichen Romanerstling Revolutionary Road/In Zeiten des Aufruhrs
  • Frauen wie die erste Ehefrau Sheila und die Agentin Monica McCall, deren Zitate immer ansprechen
  • Yates’ Zeit als Redenschreiber für Robert F. Kennedy
  • Yates’ Unterrichtsstil als Schreiblehrer in Iowa
  • Yates als Vater
  • Reime und Cartoons aus Yates’ Feder

Blake Bailey, der Yates’ Bücher sehr schätzt, liefert zu jedem Roman erst einen Pressespiegel und dann eine mehrseitige eigene Diskussion mit plausiblen Begründungen. Bailey mag besonders Revolutionary Road/In Zeiten des Aufruhrs. Young Hearts Crying/Eine strahlende Zukunft ist sicher nicht Baileys Lieblingsbuch, doch er schreibt (S. 535):

Is it a bad novel? It is not. Yates didn’t write (or publish anyway) bad novels, and a work of fiction is not to be condemned outright on the basis of unlikable characters.

Deswegen verurteile ich auch ja auch diese non-fiction-Biografie nicht.

Stil:

Blake Bailey (*1963) schreibt flüssig und angenehm, aber nie auffällig geschriftstellert oder sonstwie speziell beeindruckend. Bailey erzählt uneitel, ohne Dramatisierung oder Zeitsprünge. Insgesamt habe ich das Buch sehr gern gelesen, fand es sogar trotz des mäßig ansprechenden und teils abstoßenden Yates-Lebens und -Gebarens oft spannend – auch wegen der teils sehr privaten Einblicke. (Aufgrund einiger Kritiken und Stichproben hatte ich angenommen, die Biografie lese sich stilistisch so ähnlich wie eine Yates-Geschichte. Das stimmt jedoch nicht – nur die inhaltlichen Parallelen zwischen Yates’ Leben und Literatur frappieren .)

Die Mehrzahl der Akteure einschließlich Yates nennt Blake Bailey dabei mit dem Nachnamen – nicht unbedingt typisch für angelsächsische Biografen (so schreibt etwa Mary Dearborn über “Ernest” Hemingway, Norman Sherry über “Graham” Greene und Patrick French’ über “Vidia” Naipaul). Frauen erscheinen bei Blake Bailey oft mit Vornamen (u.a. “Martha and Yates… Yates and Martha… Martha, Yates and Monica” im nicht paginierten Bildteil). Die Agentin Monica McCall figuriert generell mit Nachname (vielleicht auch, um sie von Yates’ Tochter Monica zu unterscheiden, oder weil sie deutlich älter als Yates ist).

Ausstattung:

Ich hatte die englische Taschenbuch-Ausgabe des Picador-Verlags. Letzte Seite Normalpapier: “Printed in Poland by Amazon Fulfillment”. U4: “Printed in the United States of America”.

  • Gewicht: ca. 932g
  • Höhe: ca. 43mm
  • Gesamttext inkl. Anhang u. Inhaltsverz.: ca. 676 S.*
  • Nur Lauftext ohne Anhang: ca. 613 S.*
  • Anhang u. Danksagung gesamt: 60 S.*
  • Nicht paginierte SW-Fotoseiten: 16 (auf Textdruckpapier)
  • Vorhanden: Index und nicht-nummerierte, nach Seiten auffindbare Endnoten
  • Nicht vorhanden: Stammbaum (nicht wichtig), Jahreszahlen oder Alter als lebende Kolumnentitel (jedoch Jahreszahlen in allen Kapitelüberschriften), Literaturverzeichnis (weder Primär- noch Sekundär-)

*inkl. einiger halbleerer Seiten

Das Schriftbild war unsauber, die Buchstaben fransten leicht aus fast wie bei einem fotokopierten Raubdruck aus Saigon. Die Fotos auf Textdruckpapier waren schlecht reproduziert, womöglich von gerasterten Vorlagen neu gerastert reproduziert. Bei den Bildern zeigt Bailey weder Typoskripte oder Handschriftliches noch Titel von Erstausgaben.

Quellenangaben markiert Bailey im Lauftext nicht durch hochgestellte Ziffern – man muss nach hinten in die Endnoten blättern und gucken, ob (anmoderiert durch ein paar Wörter a.d. Lauftext) eine Quellenangabe erscheint. So entsteht eine ruhigeres Schriftbild ohne hochgestellte Ziffern, doch der interessierte Leser weiß nie, ob sich die Suche nach einer Quellenangabe lohnt. Einige wenige Hintergrundanmerkungen bringt Bailey als Fußnoten direkt auf den betreffenden Haupttextseiten.

Freie Assoziationen

  • Alle Geschichten von Richard Yates, der sein Leben oft 1:1 in Literatur umsetzte
  • Das Leben der US-Autorin Paula Fox: eigentlich nicht sonderlich interessant, ähnlich wie bei ihrem Landsmann Yates; doch ähnlich wie bei Yates will man auch bei Paula Fox wissen, wie viel selbst Erlebtes in ihren scheinbar sehr lebensnahen Romanen steckt – und darum liest man vielleicht doch ihre Biografie
  • Die Biografien von F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway, die ebenfalls in Alkohol und – zumindest Hemingway – psychischen Problemen versanken
  • Der späte, vollbärtige Yates erinnert physisch an den späten, vollbärtigen David Gates – und damit auch an den späten, vollbärtigen Hemingway
  • Wegen des Verlagsbetriebs in New York: James Salters Roman Alles, was ist/engl. All that is (2013) und Jay McInerneys Roman Alles ist möglich/engl. Brightness Falls (1992)
  • Der Biograf in der engl. Wikipedia
  • Blake Bailey über die harte Arbeit an der Yates-Biografie

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