Kritik Kurzgeschichten: Collected Short Stories, von Richard Yates – 8 Sterne

Richard Yates schreibt lakonisch über kleine Leute in und um New York, mit hochrealistischen Dialogen – ohne Effekt, aber als ob er es genau so selbst vernommen hätte. Oft geht es um Unangenehmes – Hintergedanken, Sorgen. Männer blähen sich auf und sind schnell gekränkt. Öfter laufen sie krank im Schlafanzug herum, da wirken sie noch gockelhafter. Teilweise ist das besser als in Yates’ besten Romanen.

Wiederkehrende Themen im Gesamtband

  • TB-Stationen in Militärkrankenhäusern
  • Männer sind krankhaft stolz, rüde, zum Fremdschämen unachtsam + Alkohol-affin, werden von Frauen verlassen
  • Frauen sind dekorative Möbelstücke, die sich von Männern ergeben benutzen lassen (mit Ausnahme der Tageskellnerin Maggie Hennessy)
  • Künstler übernehmen frustrierende Kommerzjobs, träumen von echter Anerkennung und vom Leben in Paris
  • Kleiner Angestellter befürchtet – und erhält – alsbaldige Kündigung
  • Erlebtes aus Kindersicht
  • US-Soldaten im 2. Weltkrieg oder kurz danach in Europa (überwiegend ohne Kampfhandlung)
  • Geschiedene Familien und ihre Kinder
  • Nikotin und Alkohol

Ursprünglich drei Kurzgeschichten-Bände

Einige der Geschichten erschienen in US-Magazinen wie Harper’s Bazaar oder (erst posthum) New Yorker. Die Geschichten der englischen Collected Stories stammen aus drei früheren Kurzgeschichtensammlungen Yates’:

Dieser letzte deutsche Band enthält Yates-Stories, die in den USA zuvor nie oder zumindest nicht zwischen Buchdeckeln erschienen, jetzt aber auch auf Englisch hier in den Collected Stories herauskamen. Offenbar basieren die meisten Geschichten auf Yates’ eigenem Leben: die biografische Skizze zum Autor am Buch-Ende liest sich wie die Zusammenfassung einer Yatesschen Kurzgeschichte, und die Themen kehren auch in Yates’ Romanen wieder. Vor allem die frühen Kurzgeschichten erwähnt Blake Bailey immer wieder in seiner Yates-Biografie.

Teil 1 sehr fokussiert

Die Stories aus Elf Arten der Einsamkeit sind zumeist blendend konstruiert, inhaltlich sehr kompakt und sparsam getextet, ohne überflüssiges Blabla – wenn auch nicht so reduziert wie Hemingways beste Kurzgeschichten, auf die sich ein Ich-Erzähler ausdrücklich bezieht.

Diese Geschichten aus Teil 1 wirken enorm geschlossen und konzentriert. Eine einzelne Geschichte des ersten Teils – Elf Arten der Einsamkeit – belegt in der englischen Methuen-TB-Collected-Ausgabe nur zehn bis 15 Seiten, so dass man sie im Lauf einer Mahlzeit oder Badewanne bequem ausliest. Eine Ausnahme bietet die Story des Ghostwriters von biederen Taxifahrer-Memoiren: sie ist länger und voll ungewohnter Ironie.

Die Geschichten aus Teil 2 schreibt Richard Yates etwas weniger verdichtet, länger, sie zeigen mehr Personal und unterschiedliches Leben in alle Richtungen – teils denkt man an Kurzromane. Sie klingen immer noch sehr gut und lesen sich sehr flüssig. Sie erinnern viel deutlicher an Yates’ Romane von Zeiten des Aufruhrs bis Strahlende Zukunft und Cold Spring Harbor.

Diese Geschichten aus Verliebte Lügner umfassen im Englischen 20 bis 35+ Seiten, die darauffolgenden Stories aus Eine letzte Liebschaft sind wieder kürzer. Sie bieten den vertrauten Yatesschen Pessimismus in punkto menschliches Beieinander, mit einer überraschenden Ausnahme. Gleich zwei Geschichten in diesem Teil spielen auf TB-Stationen im Militärkrankenhaus – das Männergehubere dort wird einem bald zuviel.

Die Geschichten aus Eleven Kinds of Loneliness (dt. Elf Arten der Einsamkeit)

  • Außenseiter-Schüler und hübsche Lehrerin
  • Unterschiedliche Gedanken bei Braut und Bräutigam am Tag vor der Hochzeit
  • Untreue Frau besucht kranken Ehemann im Krankenhaus
  • Drill und Interpersonales in der milit. Grundausbildung
  • Angestellter, Familienvater, erlebt seine erwartete Entlassung
  • Zwei sehr unterschiedlich geführte dritte Schulklassen, aus Schülersicht
  • Kette freitagabendlicher Demütigungen eines Ex-Soldaten
  • Zwei Amerikaner in Cannes räsonnieren über zu kommerzielle Künstler
  • TBC-Station im Militär-Krankenhaus
  • Ghostwriter von Taxifahrer-Anekdoten

Die Geschichten aus Liars in Love (d. Verliebte Lügner)

  • Kunsthandwerkerin in New York und ihre Kinder
  • Junge Frau stößt Vater und Ehemann vor den Kopf
  • Zwei alleinerziehende Frauen, drei Kinder in einer WG
  • Verlassener Ehemann will sich in Prostituierte verlieben
  • Junger US-Soldat in Europa besucht Paris und London, kämpft mit Jugendpsychowürmern
  • Junger Lohnschreiber will Autor werden
  • Geschiedener Schriftsteller ergattert Job + Loverin in Hollywood-Filmindustrie

Die Geschichten aus Eine Letzte Liebschaft

  • Grausame Kriegserlebnisse, erzählt auf einer Cocktailparty
  • Beziehung Patient-Krankenschwester in Militärkrankenhaus
  • 2 Marine-Ehefrauen gehen in Frankreich aus, ihre Männer sind auf hoher See
  • Zwei Soldaten im Graben im Mai 1945 hören fernes Glockenläuten
  • Männer in Krankenhaus brüsten sich mit früheren Diebestouren
  • Schülerin gilt ungerechtfertigt als Diebin
  • Rechnungsprüfer wird von Gattin verlassen, will sogleich Kellnerin aufreißen
  • Junge US-Amerikanerin tourt Paris, Südfrankreich, Venedig, Rom
  • Selbstmitleidig genesender Krankenhausentlassener zu Hause bei Frau + Kind

Freie Assoziation:

  • Es gibt viele Bezüge zu Richard Yates’ Romanen (v.a. in den Geschichten aus Liars in Love), aber auch zu Romanen der US-Amerikaner F. Scott Fitzgerald, David Gates oder gelegentlich Paula Fox
  • Ich dachte auch an Jay McInerney, der aber aufdringlicher und dramatischer schreibt, auch aus New York
  • Die Geschichte vom geschiedenen Schriftsteller in Hollywood steckt voller offen ausgesprochener Bezüge auf F. Scott Fitzgerald – und von der ersten Zeile an dachte ich an Fitzgeralds unfertigen Roman Der letzte Tycoon
  • der mehrfache Schauplatz Militärkrankenhaus erinnert an Hemingway, ebenso wie ein Soldatenbesuch im befreiten Paris des Bandes Liars in Love sowie weitere Südfrankreichszenen
  • New Yorker Angestellte wie in der Hollywood-Komödie Das Apartment von 1960
  • Ärmliche junge Paare in Ost-USA, das klingt ansatzweise nach Hasenherz, dem Band 1 der Rabbit-Reihe von John Updike, und nach einigen frühen Updike-Kurzgeschichten
  • Die Paare in New York erinnern auch ihre Artgenossen bei John Cheever

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