Fazit am Roman-Ende nach 817 Seiten:
Rivers Siddons spannt einen schönen, runden Bogen über 50 Jahre Atlanta seit den späten 1930ern. Die Stadt wird dem Leser fast zur Heimat, die Hauptfiguren gehören zur Familie. Die Sprache ist leicht und mit unspektakulären Dialogen, die Handlung überwiegend gelungen konstruiert; Siddons verbindet die Hauptcharaktere schön mit Zeitströmungen und Stadtentwicklung. Doch Siddons schreibt zu weitschweifig, zu schmalzig; die Hauptfigur Lucy ist über weite Strecken zu beliebig unberechenbar, teils psychisch krank.
MLK im Jazzclub:
Der Ich-Erzähler blickt zurück auf 50 Lebensjahre mit reichen weißen Eltern in Atlanta. Dabei schreibt Siddons (*1936) nicht ganz chronologisch: Ihr Ich-Erzähler wechselt die Epochen gelegentlich für einzelne Erinnerungen, springt sogar zwischen Kinderzeit und Beerdigung der Hauptfigur Lucy. Vor allem der Prolog verwirrt; er enthält die letzte halbe Stunde der Handlung und einige langatmige Grübeleien; man sollte ihn zum Schluss lesen. Danach aber kommt der Überblick kaum mehr abhanden.
Wie es der Leser bei einem Südstaaten-Roman erwartet, beschreibt Siddons die regionalen Sitten, die Häuser, die Pflanzen in den Gärten, den Blütengeruch, die schwülen Sommer, die schwarzen Bediensteten, Martin Luther King im Jazzclub, das unruhige Ende der Rassentrennung und eine Schlittenfahrt im, sic, Schnee von Atlanta, Georgia. Einige Kapitel spielen auch an der Uni in Princeton und im New York der späten 1950er Jahre.
Hier lässt eine weibliche Autorin einen männlichen Ich-Erzähler reden. Er zeigt sich als bücherliebendes Weichei – eine Enttäuschung für seinen kernigen Vater -, verwendet aber gleichwohl allerlei vierbuchstabige No-No-Wörter, auf die ich lieber verzichte. Gelegentlich scheint Siddons unvereinbar Widersprüchliches zu schreiben, um mehr Effekt zu erzielen. Außerdem jubelt sie die Eigenschaften einiger Hauptfiguren mitunter himmelhoch, als ob sie einzigartig auf der Welt seien, und erzeugt so immer wieder güldenen Kitsch. Unentwegt fließen zudem stumme Tränen der Rührung, Trauer usw. usf.
Interessante Charaktere:
Siddons präsentiert in ihrem 817seitigen Erfolgsbuch gleichwohl interessante Charaktere, die man gern über 50 Jahre verfolgt. Sie macht aber viel zuviel Worte um sie. Sie beschreibt teils überdeutlich, mit zu vielen Beispielen und Verallgemeinerungen, und teils zu wenig Handlung und Dialog.
Im Kinderalter redet und agiert Hauptfigur Lucy äußerst smart und eindrucksvoll, aber wie bei so vielen Kindern in Buch und Film: die originellen oder empörenden Sätze und Aktionen wirken nicht altersgerecht, sondern unglaubwürdig altklug bzw. frühreif. Das gilt im letzten Buchteil dann auch für Lucys Tochter, die zudem fast übernatürliche Talente erhält.
Auch die pubertierende Lucy wird zu stark dramatisiert. Sie erlaubt sich eine schwere Entgleisung; diese entschuldigt sie mit eigenen Problemen, die aber nichts mit der Entgleisung zu tun haben – und die Entgleisung wird nicht weiter hinterfragt oder erklärt. Später erkrankt Lucy psychisch, sie ist pathologisch unberechenbar und beliebig. Etwas rabiat zudem die Art, wie die Autorin so einige Nebendarsteller aus der Geschichte schreibt.
Kleinere Unstimmigkeiten, bei denen das Lektorat hätte aufpassen können:
- Bis zur Buchmitte verwendet Siddons innerhalb der Kapitel nur einfache Zeilenschaltungen. Sie unterteilt ihre Kapitel nicht weiter durch Leerzeilen oder Zeilen mit drei Sternchen. Diese Gestaltungsmittel verwendet sie dann aber gelegentlich ab der Buchmitte und erzeugt so einen uneinheitlichen Eindruck.
- Siddons schreibt generell kein Plusquamperfekt, das bei den vielen kleinen Rückblenden gut gepasst hätte.
- Der Ich-Erzähler der englischen Fassung redet von der Sprache “Senegalese” (also von der Sprache, nicht von der Bevölkerung); doch die Sprache “Senegalese” gibt es so wenig wie die Sprache “American”.
- Lucy schreibt ein Buch und gibt zur Veröffentlichung mehrere Parties; der sie verehrende Ich-Erzähler Shep Bondurant eruiert und sagt nie, was eigentlich drinsteht. Auch das Buch, das der Ich-Erzähler selbst über lange Zeit schreibt, bleibt äußerst diffus.
- Mehrfach beschreibt Siddons die Opfer eines Feuertods überflüssig detailliert.
- Zu oft werden Menschen als “feral” und einmal auch als “simian” beschrieben oder direkt mit Affen verglichen.
Bemerkenswert: Der üppige US-Bestseller wurde weder verfilmt noch ins Deutsche übersetzt, der Wikipedia-Artikel zum Roman ist sehr kurz. Und trotz aller Schwächen – eine Fortsetzung mit einem Titel wie “Malory’s Journey” wäre denkbar, und ich würde sie lesen.
Assoziationen:
- Wegen der Atlanta-Gesellschaft: Tom Wolfes Roman Ein ganzer Kerl/Man in Full (bei Amazon.de).
- Tanzbälle und Balzrituale der Atlanta-Jugend und dann die Princeton-Zeit erinnerten mich an einige Geschichten von F. Scott Fitzgerald.
- Die Übertreibungen und Idealisierungen klingen nach Bollywood-Kitsch.
- Der Atlanta- und Georgia-Roman Vom Winde verweht von Margret Mitchell, deren Grab im Prolog von Peachtree Road entehrt wird (bei Amazon.de)
Rezensionen:
In the end, there’s an upbeat and slightly improbable resolution to all this gloom. Pull-you-along melodrama of a city and its ruling class
keeping the reader engrossed in a suspenseful tale featuring vividly portrayed characters
The entire history of a time and place comes vibrantly alive… The strokes are often broad. Many of the characters are larger than life
Siddons does an admirable job of tracing the city`s rebirth after World War II without idealizing it… too rich, too heavy, too much for some tastes.
I made a valiant effort, but oh my Lord have mercy, why use one word when 2000 will do? The first 150 pages could have probably been condensed down to 15.
- Die Autorin in der engl. Georgian Encyclopedia und in der engl. Wikipedia
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