Kritik Kurzgeschichten: Abtauchen, von Junot Díaz (1996, engl. Drown) – 7 Sterne

Themen sind das ärmliche Leben in der Dominikanischen Republik, Statuskämpfe, der Traum von Amerika, dann Unterschichtleben, Kleinkriminalität und immigrantisches Hocharbeiten in der US-Vorstadt, Familientristesse, Untreue.

Creative-Writing-Professor Junot Díaz (*1968) entwirft keine runden Handlungsbögen: Er reiht kleine Vignetten auf, die Geschichten enden unspektakulär. Das Ambiente stößt oft ab, doch haben die Geschichten bei aller Episodenhaftigkeit etwas Brennendes, dem ich nicht entkam.

Yuniors Weg:

Fünf der zehn Kurzgeschichten handeln von Yunior (eigentlich Ramón, wie der Vater); das alter ego des Autors ist hier teils neun Jahre alt und lebt zunächst in der Dominikanischen Republik, der Vater “had left for Nueva York when i was four”. In späteren Geschichten in USA ist Yunior wohl um die 20.

Einige andere Geschichten sind Yunior nicht klar zugeordnet. Nur zwei der Geschichten aus Drown erschienen wohl im New Yorker, dem Hohetempel der US-Kurzgeschichte. Manche bezeichnen Drown als Roman, ich würde von lose verbundenen Kurzgeschichten reden.

Meine engl. UK-Ausgabe von 1997 liefert hinten ein Spanisch-Englisch-Glossar, in dem jedoch einige Ausdrücke fehlen, u.a. fehlen “brujo“, “lechosa“, “plata” oder “vete pa’l carajo”. Etwas ausführlicher ist das Online-Glossar zu Drown bei Gradesaver.com; beide Verzeichnisse wagen sich jedoch nicht an die Übersetzung vonDíaz’ Vokabel “tetas“. In der ursprünglichen US-Ausgabe verzichtete Díaz offenbar bewusst auf Glossar oder Kursivierung für die spanischen Einsprengsel, damit das Spanisch normaler klingt und monolinguale Leser sich fremder und immigrantischer fühlen (Quelle).

Ich kenne nur die englische UK-Ausgabe; die deutsche Fassung Abtauchen heißt in manchen Medien fälschlich Abgetaucht.

Vergleich der Díaz-Kurzgeschichten-Bände Drown (1997) und Und so verlierst du sie (2012):

Ich-Erzähler Yunior agiert in der Mehrzahl der Geschichten in beiden Bänden, Junot Díaz erzählt scheinbar sein eigenes Leben und das einiger Figuren um ihn herum – der ältere Bruder Rafa bekommt jedoch nur im späteren Band einigen Raum. In Abtauchen/Drown ist Yunior teils nur 9 Jahre alt und lebt zunächst in der Dominikanischen Republik. In Und so verlierst du sie ist Yunior zumindest Teenager oder erwachsen und zumeist in den USA. Insgesamt sind die Bände nicht chronologisch geordnet, man weiß nicht, welchen Lebensabschnitt die nächste Geschichte präsentiert, doch mutmaßlich geht es immer um dieselbe Familie.

Beide Bände erzählen eine Handlung zweimal in zwei Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven. In einer Angelegenheit widersprechen sich Geschichten aus früherem und späterem Band offenbar.

Der Band Und so verlierst du sie hat mehr Texte, die im renommierten New Yorker erschienen. Dieser spätere Band klingt teils deutlich mackerhafter, Frauenfleischbeschau-orientierter und dramatischer. Drei Geschichten sind in der zweiten Person erzählt (“du merkst”), im früheren Band nur eine. Kleinkriminalität und Homoerotik gibt’s nur im früheren Band Drown/Abtauchen, der gerade wegen seiner eher zurückgenommenen Sprache intensiver wirkt.

Freie Assoziation:

Die Geschichten im einzelnen:

n/10

Ysrael ᛫ DomRep: Zwei Jungs, neun und zwölf, fahren schwarz in die Stadt, um ein entstelltes Kind zu sehen und zu verstören. – Atmosphärisch, staubig, hart, unliebenswert. Attraktiv karge Sprache. Korrespondiert mit Geschichte No Face. Gehörte zu Best American Short Stories 1996. (Ausf. engl. Analyse | Verfilmung.)

7,5

Fiesta, 1980 ᛫ DomRep-Einwanderer in den USA feiern samstagsabends. Renommiergehabe, Verlogenheit, Ehebruch, Erziehungsversagen. – Gut beobachtet, traurig schön, das Ehebruchthema außerhalb der Haupthandlung etwas angestrengt hineingeschrieben. Korrespondiert mit Kurzgeschichte Invierno aus Díaz’ Band Und so verlierst du sie. Gehörte zu den Best American Short Stories 1997.

7

Aurora ᛫ Jugendlicher US-Vorstadtdrogendealer und seine delinquente On-off-Freundin. – Deprimierende Einblicke, spröd faszinierend.

7

Aguantando ᛫ Ärmliche Kindheit in der DomRep. Der Vater ist schon länger in New York; dann kündigt er seine Rückkehr an und weckt hohe Erwartungen. – Stimmungsvolle Vignetten. Die alleinerziehende Mutter ist eine Persönlichkeit, ich wüsste gern mehr von ihr.

7

Drown ᛫ Junger Kleinkrimineller, Vorstadttristesse, Homoerotik. – Deprimierende Episödchen, zusammengewürfelt, cool erzählt.

6

Boyfriend ᛫ Cooler Unterschicht-Einsamer mit “heart-leather” belauscht zerbrechendes Nachbarpaar, hat eigene Frauenprobleme, lädt verlassene Nachbarin ein. – Semi-atmosphärisch, unsympathisches Milieu. Verwendet Motive aus späterem Diaz-Band Und so verlierst du sie (u.a. Trauer um Ex, die man(n) betrogen hat; das Wort “whitegirl”; Sätze wie “Forget her sell-out ass. That’s not the sort of woman you need”).

6

Edison, New Jersey ᛫ Fieser Auslieferungsfahrer betrügt Chef, Kunden. Freundin ist weg, verheirateter Kollege bespringt Kollegin. Abstoßendes Ambiente, von dem man aber nicht loskommt, packend maulfaul erzählt (so dass ich nicht alles verstand). – Klassenunterschied etwas zu deutlich. Üblicher Episodenreigen. Klingt, als habe Díaz eine zunächst längere Geschichte hart gekürzt. Erschien 1996 in der Paris Review. (Volltext.)

7,5

How to Date a Browngirl, Blackgirl, Whitegirl, or Halfie ᛫ Breitbeiniges Geschwafel, wie man ein schwarzes/braunes/weißes Vorortmädel ins Wohnzimmer/Resto/Bett bekommt. Erwartungen und Maßnahmen werden der Hautfarbe angepasst. Ironisch, sozialkritisch, satirisch, (trotzdem) doof. Immerhin kurz. Pseudocooles Gerede in 2. Person erinnert an drei Stücke in Und so verlierst du sie. Erschien 1995 im New Yorker.

3,5

No Face ᛫ Gedankenstrom eines entstellten Jungen in der DomRep, er besucht einen Pastor und wird verkloppt. – Kleine Vignetten, mir teils unverständlich. Gegenstück zu Ysrael.

5

Negocios  ᛫ Mit 24 geht der Yuniors Vater allein in die USA, schlägt sich als illegaler Malocher durch, versucht Scheinhehe, vergisst Familie in der DomRep nicht (immer). – Guter Einblick in Immigrantendasein. Der ruhige Erzählton hebt sich von den anderen Geschichten ab. Ungewöhnlich lang. Korrespondiert mit der Geschichte Aguantando aus demselben Band; steht scheinbar inhaltlich im Konflikt zu Otravida, Otravez aus Díaz späterem Geschichtenband. Hauptfigur Nilda nicht zu verwechseln mit einer Titelfigur aus dem späteren Band.

7,5

 

Ø

6,4

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