Die meisten der neun Kurzgeschichten zeigen Ich-Erzähler Yunior als jungen Mann, der aus der Dominikanischen Republik in die USA einwanderte. Yunior erzählt zunächst in maulfaul-saucoolem Slang von heißen Weibern, aber richtig rund läuft nichts – selbst dann nicht, wenn er sich mal als Frauenversteher geriert.
Der aufgesetzt kaugummimalmend gleichgültige Ton der ersten Geschichten wirkt repetitiv und weckt Befürchtungen. Danach textet Creative-Writing-Professor Junot Díaz (*1968) jedoch weniger breitbeinig, er beschreibt schmerzhaft einfühlsam das Einwanderermilieu und brüchige Beziehungen. Begegnungen mit weißen US-Amerikanern gibt’s nur am Rand, der Ich-Erzähler findet schon Puertoricaner oder Kubaner in New Jersey exotisch. Insgesamt erzielen die Geschichten bei HansBlog.de einen Durchschnitt von 6,6 von 10 (Details unten).
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Weil sich Personal und Ambiente kaum ändern, wirkt das Buch fast wie ein Episodenroman. Die LARB fühlte sich an eine Vorabend-Soap, an eine Telenovela erinnert. Junot Díaz entgegnete dem im Interview:
Novelas taught me a lot about narrative, about storytelling, how to hold people’s attention over a span of episodes. But with this book I also wanted a hybrid pleasure. I wanted, to be precise, a story collection with a novelistic arc.
Allerdings erscheint mittendrin auch eine Geschichte mit anderem Personal, das stört die “hybrid pleasure” (diese Story ist die Außensicht auf die Hauptfiguren, aber das kapierte ich erst nach Internetkonsultation). Die Texte erscheinen nicht chronologisch und überschneiden sich gelegentlich, wo bleibt der “novelistic arc”?
Nicht nur Sprech und Figuren kehren immer wieder, auch von einigen Motiven kann der Autor nicht lassen, etwa Untreue-Aufdeckung durch Tagebücher oder Briefe und Deklaration der verräterischen Tagebücher als Romanprojekt; oder Verlust der Freundin nach exzessessiver Untreue und dann exzessives Hinterhertrauern.
Zwischendurch streut dieser Unterschicht-Akteur, der sich gelegentlich auch als Bücherwurm outet, allerlei elaboriertes Vokabular wie fulgurating, varicating, pelagic, incinerate, cenotaphs, sciatica, mehrfach pulchritude, demotic (ich kenne nur das engl. Original). Auch vereinzeltes Psychologisieren und Räsonnieren passen nicht ganz zum coolen Spröden.
In sein Englisch knallt Yunior allerlei Spanisch (es kehrt in der deutschen Fassung wieder): Hauptwörter oder ganze Sätze, gelegentlich Wortspiele, US-Kommentatoren reden von Spanglish. Man kann dazu lernen, auch Vulgäres, aber nur per Internet, denn ein Glossar bieten weder deutsche noch englische Ausgabe, wohl zu heikel.
Viele Kurzgeschichten hier dauern genau eine Mahlzeit – typisch für Stories, die zuerst im New Yorker erschienen (und eine Mahlzeit, die weniger als eine Stunde dauert, ist gescheitert). Meine englische Buchausgabe ist luftig gedruckt und präsentiert zwischen den Geschichten noch allerlei Leerseiten.
Vergleich der Díaz-Kurzgeschichten-Bände Drown (1997) und Und so verlierst du sie (2012):
Ich-Erzähler Yunior agiert in der Mehrzahl der Geschichten in beiden Bänden, Junot Díaz erzählt scheinbar sein eigenes Leben und das einiger Figuren um ihn herum – der ältere Bruder Rafa bekommt jedoch nur im späteren Band einigen Raum. In Abtauchen/Drown ist Yunior teils nur 9 Jahre alt und lebt zunächst in der Dominikanischen Republik. In Und so verlierst du sie ist Yunior zumindest Teenager oder erwachsen und zumeist in den USA. Insgesamt sind die Bände nicht chronologisch geordnet, man weiß nicht, welchen Lebensabschnitt die nächste Geschichte präsentiert, doch mutmaßlich geht es immer um dieselbe Familie.
Beide Bände erzählen eine Handlung zweimal in zwei Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven. In einer Angelegenheit widersprechen sich Geschichten aus früherem und späterem Band offenbar.
Der Band Und so verlierst du sie hat mehr Texte, die im renommierten New Yorker erschienen. Dieser spätere Band klingt teils deutlich mackerhafter, Frauenfleischbeschau-orientierter und dramatischer. Drei Geschichten sind in der zweiten Person erzählt (“du merkst”), im früheren Band nur eine. Kleinkriminalität und Homoerotik gibt’s nur im früheren Band Drown/Abtauchen, der gerade wegen seiner eher zurückgenommenen Sprache intensiver wirkt.
Freie Assoziation:
- Ich-Erzähler Yunior agiert auch in den früheren Kurzgeschichten Junot Díaz’ aus dem Band Abgetaucht/engl. Drown und als Nebenfigur Díaz’ Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao.
- Der nassforsche Ton erinnert an den frühen Jay McInerney, speziell die Geschichten Alma, Miss Lora und The Cheater’s Guide in der zweiten Person (auch Lorrie Moore schreibt in der zweiten Person, klingt aber anders).
- Aus der Dominikanischen Republik nach New York gezogen sind auch die Figuren von Julia Alvarez.
- Man denkt an die Kuba-New Yorker Belletristik von Paula Fox, vor allem an Luisa und In fremden Kleidern.
- Indische US-Einwanderer figurieren in den frühen Büchern von Jhumpa Lahiri (weniger hormon-, mehr kopfgesteuert, Bengalen halt).
- Es gibt kaum Assoziationen zu meinen üblichen Kurzgeschichten-Helden Richard Yates, Raymond Carver, Hemingway, John Updike oder Somerset Maugham.
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Die Geschichten im einzelnen: |
n/10 |
The Sun, The Moon, The Stars ᛫ 1998* ᛫ Cooler Macker betrügt seine Latina, will Beziehung auf DomRep-Reise retten, kämpft dabei gegen eigene Schwächen und Illusionen. – Macho-Tonfall mit Spanish-Franzosisch-Einsprengseln fasziniert und widert an. Die Mischung aus Frauenverbraucher- und -verstehertum auch. Einige Details (mir) unverständlich. Französisch erscheint ohne besonderen Grund nur in dieser einen Geschichte – unrund. Deutliche Motiv-Parallen zu The Cheater’s Guide to Love. Online breit analysiert (oder nacherzählt). Gehörte zu Best American Short Stories 1999. |
7 |
Nilda ᛫ 1999 ᛫ Nilda, 15, “brown trash”, aber Mörderhammeroberweite, schläft ein paar Monate lang mit dem Bruder des jungen Ich-Erzählers, der alles hautnah miterlebt. Dann ein Zeitsprung über zwei Jahre. – Deprimierende Geschichte im Mackerslang, mild bewegend unter cool erzählter Oberfläche. Titelfigur nicht zu verwechseln mit Hauptfigur Nilda aus der Geschichte Negocios aus Díaz’ Band Abtauchen/Drown (1996). Eng verbunden mit The Pura Principle (unten). Gehörte zu Best American Short Stories 2000. |
7 |
Alma ᛫ 2007 ᛫ Titelheldin hat “big Dominican ass” und wird trotzdem von ihrem Kerl betrogen. Aufgeflogen, versucht er ‘ne ungewöhnliche Ausrede. – Coole Stimme, coole Ausrede, aber die habe ich erst nach Internetkonsultation verstanden. Sehr kurz. |
7 |
Otravida, Otravez ᛫ 1999 ᛫ Yasmin, Krankenhauswäscherin in New Jersey, lebt mit Ramón zusammen, der auch Frau und Kind in der DomRep hat – und von dort noch Briefe erhält. Yasmins Freundin sah ihre Kinder in der DomRep seit sieben Jahren nicht. – Unkitschig traurige, längere Geschichte. Dank weiblicher Ich-Erzählerin ohne Mackergespreize. Gegenstück zur Geschichte Invierno. Scheinbar inhaltlicher Konflikt mit Geschichte Negocios aus Abtauchen/Drown. |
8 |
Flaca ᛫ Zunächst berührende Chronik einer betont unverbindlichen “Beziehung”:
Später unübersichtlich. Nach Lektüre der nachfolgenden Geschichte Pura Principle hatte ich den Inhalt bereits vergessen. |
6,5 |
The Pura Principle ᛫ 2010 ᛫ Todkranker Bruder heiratet Illegale, die Papiere braucht, und Geld auch. – Schmerzhafter Einblick in Einwanderer-Welt, cooler kleiner Bruder als Ich-Erzähler. Eng verbunden mit Nilda (oben). |
7,5 |
Invierno ᛫ Der erste Winter der Dom-Republikaner in New Jersey. Es ist kalt, die Nachbarn sind wunderlich, Toilette und Dusche anders, der Malocher-Vater erzieht falsch und diktatorisch, Englisch lernt man per Sesamstraße. – Kein Fraunskram, kein Handlungsbogen, doch eindringliche Szenen aus dem Einwanderermilieu. Gegenstück zur Geschichte Otravida, Otravez. Korrespondiert mit Kurzgeschichte Fiesta, 1980 aus Díaz’ Band Abtauchen/Drown (1996). |
7,5 |
Miss Lora ᛫ 2012 ᛫ 16jähriger mit asketischer Freundin vögelt behelfsweise mittelalte Nachbarin. – Gegen Ende zu viel beliebige Handlung, wie ein hastiger erster Romanentwurf. Der Du-Erzähler (2. Person Singular) überzeugt nicht. Die Geschichte enthält besonders viel Spanisch einschl. Schweinespanisch. Berechtigte Kritik eines Bloggers:
Und das sind noch nicht alle Plotelemente. Miss Lora erhielt 2013 trotzdem den höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis, zählte auch zu den Best American Short Stories 2013. Volltext hier . |
6 |
The Cheater’s Guide to Love ᛫ 2012 ᛫ “Old sluts are the hardest habit to ditch”: Mann verliert Freundin wegen krankhaften Fremdgehens, fällt absurd in mehrjähriges Jammertal, sogar die Gesundheit leidet. – Man soll eine Geschichte nicht wegen widerwärtiger Figuren verurteilen, ich tu’s aber: So ein selbstmitleidiger, egozentrischer Wichser, und dann auch noch als pseudocooler Du-Erzähler. Die Parallelen zum Leben von Junot Díaz fallen auf. Dass der E-Mail-Mülleimer verräterisches Süßholz “over a six-year period” aufhebt, ist möglich, aber weniger wahrscheinlich, wie so einiges im Text. Deutliche Motiv-Parallelen zu The Sun, the Moon, the Stars. |
3 |
Ø |
6,6 |
*Jahreszahlen wie immer ohne Gewähr
Links:
- Zumbuchwiki (engl.)
- Inhaltsangaben pro Geschichte, länger als in der Wiki
- Deutsche Leseprobe beim S. Fischer Verlag
- Der New Yorker bietet seine Diazgeschichten online im Volltext, aber mit Limit pro Leser pro Monat
- Paul Ingendaays FAZ-Rezi bei Bücher.de (kein Werbelink)
- Rezensionsspiegel bei Bookmarks
- Rezensionsspiegel bei Omnivore
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