In diesem Buch passiert nicht viel, und die Hauptfiguren sind wunderlich. Fast hätte ich es nach 20 Seiten weggelegt, und das gibt’s selten, erst recht bei Paula Fox (1923 – 2017). 17 Verlage wollten das Manuskript nicht herausbringen (Quelle). Zum Glück erkannten letztlich ein Verlag und dann auch ich die Qualitäten, und ich war bald umso mehr gefesselt:
- Fox liefert eine äußerst genaue Figurenzeichnung mit wenigen Strichen, hochinteressanten Dialogzeilen und Beobachtungen; selten ist man so nah dran am Personal. Wie eine fesselnde, genaue Doku (auch weil die Hauptfigur als Putzfrau in allerlei Privathaushalte schaut).
- Die Figuren, so skurril und so verstritten sie sind, wecken Interesse und sogar Sympathie. Gerade wie sie sich streiten und gegen alle Erwartung reden und agieren, das zieht an – und wirkt hier nie unplausibel. Später ist die Hauptfigur dezidiert durchschnittlich und erscheint gerade wegen ihres schrillen Umfelds sympathisch.
- Paula Fox erzählt konsequent nur aus der Ich-Erzählerin-Perspektive von Luisa, die in der ersten Buchhälfte minderjährig ist. Keine wilden Perspektivwechsel. Jeweils mit einer kleinen Ausnahme keine modischen Rückblenden oder Träume. Dafür schöne, unaufdringliche Querbezüge zwischen den Buchteilen; wiederholte Lektüre lohnt sicherlich.
Vielleicht hat mir noch nie ein Roman mit so wenig Handlung so gut gefallen. Die Hauptfigur ist eine genau beobachtende Haushaltshilfe, die auf mögliche Bildung und Karriere bewusst verzichtet. Und Fox dichtet ihr auch keine Privatbildungsexzesse an, zum Beispiel nächtliche Proustlektüre oder so was; schon dass die Ich-Erzählerin das Wort “bourgeois” widergibt, befremdet (S. 294 der engl. Norton-TB-Ausgabe; die dt. Übersetzung von Alissa Walser kann ich nicht beurteilen).
Mich störte höchstens, dass die von Anfang an erwachsene Ich-Erzählerin aus früher Kindheit so feine Details berichtet, die sie eigentlich kaum erinnern kann. Und ein paar Sätze über Haushälterinnenarbeit klingen etwas zu belehrend, zu politisch, verlassen den sonst so realistischen Ton (z.B. “even the most elementary equality was not my right”, S. 250). Vielleicht habe ich das ganze mögliche Hauptthema Hausdienerin vs. “wichtige Arbeit” und Spannung der Ethnien verpasst und den Roman als spannendes Psychogramm einer Latino-Einwanderin und als Betrachtung der US-Familie gesehen.
Denn ein weiteres Thema ist sicher der Zustand der modernen Kleinfamilie – in den USA, aber auch bei Latinos. Mit Haushälterin Luisa blicken wir erst in einige Familien auf Kuba, dann in Latino-Familien in New York, dann in allerlei weiße US-Familien – zumeist zerbröckelt, mit Ausnahme der Millers, die aber nach Delaware verziehen.
Aufbau der Handlung:
- Erstes Viertel: Der erste Buchteil schildert eine seltsame Kleinfamilie in einem fiktionalisierten Kuba (Insel San Pedro mit Hauptstadt Tres Hermanos): Die arme Küchenhilfe Fefita und ihre kleine Tochter Luisa – deren Vater ist unstandesgemäß Orlando, der Sohn der reichen, aber geistig entrückten Laura-Arbeitgeberin
- Zweites Viertel: Diese wunderliche Kleinfamilie wandert nach New York aus und lebt dort sehr ärmlich. Hier ist Hauptfigur und Erzählerin Luisa Kind und Jugendliche.
- Zweite Hälfte: Noch als Jugendliche zieht Luisa von den Eltern fort und wird Haushälterin. Hat Beziehung und Kind. Putzt in diversen Haushalten.
Freie Assoziationen:
- Mutter und Großmutter der Tochter-Hauptfigur erscheinen auch in Paula Fox’ Roman Lauras Schweigen/The Widow’s Children (dort fiktionalisiert Paula Fox einen anderen Abschnitt ihrer Lebensgeschichte) und in Fox’ Kindheitsmemoiren In fremden Kleidern/Borrowed Finery.
- Eine Haushälterin namens Luisa erscheint flüchtig auch in Paula Fox’ Europa-Erinnerungen Der kälteste Winter/The Coldest Winter, dort lebt Luisa in Barcelona.
- Den Wechsel als Jugendliche von der Karibik in ein ärmliches Leben in New York beschreibt in einigen Büchern auch Julia Alvarez (Fox ist etwas besser)
- Fox’ erzählerische Sensibilität erinnerte mich vage an Jhumpa Lahiri und noch vager an Nancy Horan; Fox klingt jedoch nüchterner
- Beim Blick auf die kaputte (US?- westliche?-) Familie dachte ich an David Gates und Richard Ford
Paula Fox bei HansBlog.de:
Goodreads* | Amazon.com* | HansBlog | |||
Belletristik: | |||||
1970 | Desparate Characters | Was am Ende bleibt |
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1972 | The Western Coast | Kalifornische Jahre |
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1976 | The Widow’s Children | Lauras Schweigen |
7 |
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1984 | A Servant’s Tale | Luisa |
8 |
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2011 | News from the World: Stories and Essays | Die Zigarette und andere Stories |
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Memoiren: |
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2001 | Borrowed Finery | In fremden Kleidern |
8 |
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2005 | The Coldest Winter | Der kälteste Winter |
5 |
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Bernadette Conrad: | Die vielen Leben der Paula Fox |
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*Leserwertung (Zahl der Stimmen), Stand August 2019
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