Kritik Memoiren: Der kälteste Winter, von Paula Fox (2005, engl. The Coldest Winter) – 5 Sterne

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Als etwa 23jährige reist Paula Fox (1923 – 2017) im Auftrag einer kleinen Nachrichtenagentur um 1946 durch das kriegszerstörte Europa. Die Stationen in diesen Erinnerungen sind New York, London, Warschau, Barcelona, Madrid, Mallorca, Paris. Diese Memoiren veröffentlichte Paula Fox über 50 Jahre später. Da hatte sie schon lange keine Erwachsenenromane mehr herausgebracht, jedoch kurz zuvor ihre gefeierten Kindheitserinnerungen In fremden Kleidern/Borrowed Finery (2001).

Und der Der kälteste Winter (2005) klingt ein wenig, als ob Paula Fox den Stil – und vielleicht den Erfolg – der Fremden Kleider wiederholen wolle: Wieder schreibt sie kurze Episoden in lapidarem, flüchtigem Stil, huscht hierhin und dorthin, wechselt die Orte und die Bezugspersonen, wertfrei, selbstmitleidlos, fast gefühllos. Sie liefert zunächst keinerlei Hintergründe, nur das unmittelbar selbst Erlebte. Der Ausdruck “borrowed finery” erscheint auch einmal wie zufällig auf S. 23.

In Europa

Bei den Erinnerungen an ihre unschöne Kindheit passt dieser Stil indes eher als im verwüsteten, eiskalten Europa mit Lebensmittelknappheit und Kriegsheimkehrern. Paula Fox bezeichnet sich als “Stringer”, quasi Hilfsjournalistin, und hat zweitrangige Aufträge – also nicht etwa die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (wo sie Erika Mann oder Hemingway getroffen hätte).

Fox erlebt Wahlen und Landpartien in Polen, spricht untergeordnete Botschaftsmitarbeiter in Paris, begleitet eine Pressereise nach Mont St Michel und durchstreift London auf der Suche nach Arbeit. Sie hat eine sehr flüchtige Affäre und trifft noch flüchtiger Winston Churchill, Jean Paul Sartre und Billie Holliday (dieses name dropping erinnert wieder an die Fremden Kleider). Sie trifft immer wieder Opfer der Nazigreuel, aber auch jüdische Funktionäre und Soldaten.

Natürlich kann Fox nach so langer Zeit keine sehr genauen Erinnerungen abliefern. Der hingehuschte, nachlässige Ton wirkt darüber hinaus aber auch gelangweilt, desinteressiert. Sie nimmt sich selbst nicht wichtig, aber scheinbar auch nicht ihre verwüstete Umwelt. Sie klingt hier kultiviert ästhetisiert und schreibt fast stolz:

“I knew so little, and the little I did know, I didn’t understand.” (S. 54)

Ausstattung

Ich habe das englische Original in der Hardcover-Version des Henry Holt-Verlags gelesen (ich kann also Übersetzung und Ausstattung deutscher Ausgaben nicht beurteilen). Diese US-Fassung kommt auf gerade mal 133 Seiten – und das nur, weil extrem wenig Text pro Seite erscheint, und weil der Verlag Leerseiten und ganzseitige SW-Fotos zeigt. Die Textmenge erinnert also eher an eine knappe Novelle.

Die nicht beschrifteten Bilder wurden lt. Impressum weitgehend bei Agenturen zusammengeklaubt – Duke Ellington, Billie Holliday, Cafés in Paris – und wirken sehr unpersönlich, mit einer Ausnahme nicht aus Paula Fox’ Kamera.

Einzelne Teile des Buchs erschienen lt. Impressum vorab bereits in der Paris Review und anderen Publikationen. Der Verlag nennt aber nicht die Jahre der Erstveröffentlichung; ich weiß also nicht, ob sie ursprünglich als Einzelgeschichten geschrieben wurden oder ob Fox von Anfang an dieses Buch Der kälteste Winter im Sinn hatte. Ich weiß auch nicht, ob sie vier Stunden, vier Tage, vier Wochen, vier Monate, vier Jahre oder vier Jahrzehnte nach dem Geschehen entstanden. Tatsächlich zeigen die einzelnen Geschichten bei Gesamtbetrachtung Brüche und Überschneidungen; Paula Fox hätte sie womöglich vermieden, wenn sie alles en bloc geschrieben hätte.

Sketches of Spain

Deutlich fallen die zwei spanischen Geschichten vom Rest des Buchs ab. In Spanien ist Fox nicht mehr als Jungjournalistin, sondern auf Familienbesuch. Wir hören – wie in ihren anderen Büchern – Geschichten ihrer spanisch-kubanisch-amerikanischen Familie. Verblüffend: Nur in Spanien geht Fox ernsthafter auf die politische Situation ein, wohl weil ihre Verwandten dort direkt davon betroffen sind und teils vom Franco-Regime unterdrückt werden; vielleicht auch, weil Fox als Spanischsprecherin mehr aufnimmt als in Warschau.

Ihr Onkel Antonio hat eine Haushälterin Luisa – so heißt auch die Hauptfigur, eine Haushälterin, in Fox’ Roman Luisa/A Servant’s Tale (1984). Ansonsten spielt Fox außerhalb der Spanienkapitel kaum auf ihre persönliche Geschichte an und legt kaum Spuren zu anderen Romanen – ungewöhnlich für diese Autorin, bei der sonst immer wieder die eigene Lebensgeschichte durchscheint.

Paula Fox bei HansBlog.de

      Goodreads* Amazon.com* HansBlog
  Belletristik:        
1970 Desparate Characters Was am Ende bleibt

3,69 (3811)

3,5 (80)

 

1972 The Western Coast Kalifornische Jahre

3,77 (70)

4,0 (5)

 

1976 The Widow’s Children Lauras Schweigen

3,68 (286)

3,4 (10)

7

1984 A Servant’s Tale Luisa

3,67 (114)

3,6 (5)

 

2011 News from the World: Stories and Essays Die Zigarette und andere Stories

3,65 (74)

5,0 (3)

   

  Memoiren:

2001 Borrowed Finery In fremden Kleidern

3,57 (578)

3,8 (25)

8

2005  The Coldest Winter Der kälteste Winter

3,44 (185)

3,0 (15)

5

   

  Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox

*Leserwertung (Zahl der Stimmen), Stand August 2019

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