Kritik Japan-Roman: Der Schlüssel, von Junichirō Tanizaki (1956) – 7/10

Ikuko, 45, ist unzufrieden mit ihrem Schlappmann, 56. Mitleidlos ätzt sie in ihrem Tagebuch:

Ach, wenn er doch nur ein wenig männlicher wäre, etwas stärker, etwas ausdauernder, wie einst in seinen jungen Jahren ((…)) Und wenn er mich wirklich liebt, dann muss er mich auch glücklich machen können.

Von der tragischen erektilen Indisponiertheit des Mannes handeln die abwechselnden Tagebuchnotizen von Mann und Frau – und von seiner wundersamen Wiederauferstehung, aber nur, wenn Ikuko Bewusstlosigkeit vortäuscht, und Eifersucht generierende Gefühle für einen Rivalen.

Dann gibt es noch Tochter Toshiko; der junge Freund des Hauses Kimamura soll ihr Mann werden  – oder liebt er eher Ikuko? Und liebt Ikuko nicht eher Kimamura? Die Eifersucht auf Kimura treibt Ikukos Mann zu erektilen Weltrekorden.

Tagebuch:

Das ist eine spannende Konstellation, und die Erzählweise ist noch spannender: Junichirō Tanizaki (1886 – 1965) gibt abwechselnd Tagebuchauszüge von Mann und Frau wider; dabei hofft der Mann, dass die Frau sein Tagebuch liest; aber er sagt es ihr nicht, er lässt nur den Schlüssel herumliegen.

Tanizaki erfindet erotische Situationen: Der Mann beäugt und beschläft seine Frau, während sie scheinbar vom Cognac ausgeknockt ist – oder ist sie doch bei Bewusstsein? Sicherheitshalber gibt er ihr noch etwas Schlafmittel – auch als Vorwand dafür, sich weiter bewusstlos zu stellen. Sie haucht Kimamuras Namen, nur scheinbar bewusstlos, um ihren Mann eifersüchtig und damit standfester zu machen.

Die Mischung aus westlichen und japanischen Motiven ist reizvoll: einerseits picheln die Eheleute und ihr Freund Kimamuru französischen Courvoisier; andererseits schreibt Ikuko ihr Tagebuch auf Reispapier, und dessen typisches Knistern verrät ihrem Mann zu ihrem Schreck, dass sie wohl an einem Tagebuch arbeitet – für jeden anderen Zweck hätte sie “europäisches Papier” verwendet, auf dem freilich ihre zierliche Schrift nicht so gut aussieht.

Planspiel:

Die ganze Geschichte wirkt leicht konstruiert, die Tagebucheinträge der zwei Eheleute steuern klar auf ein Ziel zu. Zur Mitte des Büchleins, um Seite 65 herum, ist die Geschichte ein reines Planspiel des Autors ohne viel Realismus, er will die Abläufe auf Symmetrie zwingen.

Die Tagebücher klingen nun zu geschriftstellert und nicht nach Tagebuch. Es gibt keine interessanten Widersprüche zwischen den Einträgen von Mann und Frau; später kommentiert Ikuko die Tagebuchtexte ihres Mannes ausführlich, auch dabei fehlen markante Augenöffner.

Zudem reden beide Tagebuchschreiber teils zu einem Dritten:

Außerdem bitte ich, mir Glauben zu schenken: was er auch getan haben mag, …

Viele Seiten in der zweiten Buchhälfte lesen sich zudem wie ein Krankenbericht mit Katheter, Blutdruckwerten und Blumen am Bett – kein Spaß (und kein Sex). Auch die Plots anderer Tanizaki-Romane klingen zwar prickelnd, indes unrealistisch konstruiert. Spannend bleibt Der Schlüssel trotzdem.

Übersetzungen:

Ich hatte die ältere rororo-Eindeutschung von Sachiko Yatsushiro und Gerhard Knauss, die mich gelegentlich irritierte:

skrofulös… möchte ich nicht unterlassen zu sagen… Vitakampferinjektion… gichtbrüchig… Konkupiszenz… Hirnanämie

Die neuere 2017er-Übersetzung aus dem Cass-Verlag, ISBN 978-3944751139, kenne ich nicht. Bei dieser neueren Fassung wurden die Tagebucheinträge des Mannes von Jürgen Stalph übersetzt und die Tagebucheinträge seiner Frau von Katja Cassing (Quelle). Ob bei der älteren Übersetzung, die ich las, eine vergleichbare Arbeitsteilung herrschte, weiß ich nicht – der Tonfall der beiden Sprecher scheint sich nicht zu unterscheiden.

Assoziation:

  • Auch im Roman Vladimir von Julia Jonas May verachtet eine erwachsene Tochter ihre Mutter, die vermeintlich gegenüber dem liederlichen Vater zu nachgiebig ist, jedoch das ganze weit weniger streng sieht als die empörte Tochter; beide Romane enthalten Varianten des Wortes Konkupiszenz
  • Stellenweise Parallelen zum Fall Pelicot
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