Romankritik: Kürzere Tage, von Anna Katharina Hahn (2009) – 6/10

Anna Katharina Hahn schreibt psychologisch sehr genau und nachvollziehbar, wenn auch zu dialogarm. Der Roman wurde ins Englische übersetzt und für den Deutschen Buchpreis 2009 gelonglistet. Englischsprachige Romane sind durch die Bank besser als deutsche, aber aus psychohygienischen Gründen muss ich doch um 50% Deutsches lesen; zu diesem Programm gehört auch Kürzere Tage.

Frauen und Kinder:

Hauptfiguren sind zwei bis Seite 76 von 222 unverbundene Frauen um die 30, von denen die Autorin zunächst abwechselnd erzählt.

Wichtige Nebenfiguren sind die 4 Kinder der 2 Frauen:

Felicitas Lippe glänzt geschwollen unter einer Schicht Wundsalbe, sie schnauft mit offenem Mund, der Atem ist warm und riecht nach Kinderzahnpasta…. “Mein Eimer ist voll, Mama.” ” Meiner auch!“… Judith ist dankbar dafür, daß ((sic)) ihre Kinder mit der homöopathischen Hausapotheke auskommen. Nie stellte sich die Frage nach Stärkerem, Antibiotika etwa oder Kortison. Was würde sie tun, wenn sich diese kleinen Körper im Schmerz aufbäumten… Leonie greift nach dem Eimer, den Uli ihr hinhält. Sie füllt Förmchen… umschwebt von Milchdunst und Wochenfluß ((sic)), neben Judiths rubinrot gesaugten Brustwarzen

Das muss man mögen.

Männer erscheinen unter ferner liefen; beide Frauen haben einen, aber der ist meist weg, indes vonnöten als Anerkennungs- und Sexprovider, gelegentlich als Babysitter.

Zur Buchmitte endet der kapitelweise Wechsel zwischen Judith und Leonie vorläufig. Nun blendet Hahn (*1970) in eine Proll-Patch-Familie, sogar mehrere Kapitel hintereinander. Das muss man auch mögen.

Dem folgen mehrere Kapitel en suite zur sudetendeutschen Rentnerin Luise samt detaillierter Totenwäsche – ebenfalls gewöhnungsbedürftig. Die Bobo-Welt der ersten Buchhälfte ist nun weit weg; fast freut man sich, wenn die Frauen und ihre Blagen 100 Seiten später wiederkehren, allerdings mit ungut aufgepumpter, rauchender Dramatik und mehr kleinen Zeitsprüngen.

Sprache:

Mal schreibt die Autorin abstoßend vulgär (auch im Gedankenstrom der Frauen), dann wieder niedlich schwäbisch:

Der Fick…Versucherle vom selbstgebackenen Apfelkuchen… Bärenschlößle ((sic))… zu kleine Titten… Gärtle… ein Wochenende voll Shoppen, Ficken und Fernsehen… ausgedehntes Schwätzle…

Anna Katharina Hahn formuliert überwiegend unauffällig ordentlich, mit einigen Enttäuschungen:

klebrige Inseln aus verschüttetem Saft oder Milch, die sich mit Staub und Krümeln verbinden und festbacken… Platitüden über das Wetter(….), die bei aller Zurückhaltung stets eine gewisse persönliche Aura tragen… das Leben eines Familientorsos ((einer Alleinerziehenden))… Ihr Horizont ist nicht höher als der Rand einer Müslischale, blind für die Verwerfungen der Welt… das leere Loch ((im Schrank)), wo Einos Klamotten gewesen waren

Konstruktion:

Die Autorin wechselt zwischen zwei Hauptfiguren, Frauen in Paarbeziehungen, mit jedem Kapitel hin und her, unterbrochen durch 100 Seiten über Nebenfiguren, das erlaubt  Cliffhanger (und Gähner bei Hans D. Blog).

Die Autorin durchbricht die erzählte Jetztzeit mit langen, geleierten Rückblenden, wechselt dafür vom Präsens ins Präteritum. Dialog gibt es dort kaum mehr – ein gängiger Stil, kein schöner.

Knitterfältchen:

Beide Frauen im Zentrum des Romans (Leonie, Judith) umgeben sich mit, ja schmachten nach groben Männern, Maskulinisten (Sören, Simon), sie kleiden sich teils puppig und verzweifeln immer wieder über eine

Einkerbung im Augenwinkel… leichte Knitterfältchen um Mund und Augen… Krähenfüße und Stirnfalten, Katerspuren… die Mundwinkel hängen… die Haut an Augen und Hals mürbe und eingekerbt… Körper mit den silbernen Riß((sic))spuren unter dem Bauchnabel, den gesackten Brüsten, dem zarten violetten Netz der Besenreiser an Oberschenkeln und Knöcheln

Oberflächlich, frauenverachtend, aber Frau Hahn darf das.

Assoziation:

Er reißt ihre Sachen runter. Er ist der Bestimmer… sie hat nur den Wunsch, von ihm überwältigt zu werden ((er war davor fies zu ihr))

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