Romankritik: Ein untadeliger Mann, von Jane Gardam (Old Filth 1 von 3) – 6/10

Vielleicht loben Engländer wie der Guardian den Roman so, weil er urenglische Themen behandelt: die Kolonialerfahrung (“Raj”), Internat (voller “Raj orphans”), gediegene Rituale, Darjeeling-Tee, der harte Nachkriegswinter, Leben und Garteln auf dem Land, einsam Altern, stiff upper lip/unterdrückte Gefühle, Kriegszeiten inkl Bletchley Park und Gallipoli. Nordengland, Malaysia, Südengland, Hongkong, London, Singapur, Ceylon, Sierra Leone.

Zeitsprünge:

Jane Gardam schreibt atmosphärisch und mit hintersinnigen Dialogen. Doch sie springt aufdringlich zwischen den Zeiten:

  1. Das erste Kapitel behandelt den uralten Old Filth, schon verwitwet, schon zurück in England.
  2. Danach geht es um seine allerersten Jahre in Malaya.
  3. Danach ist die Hauptfigur ein Schüler in Wales.
  4. Und das vierte Kapitel beginnt so:

Seventy years on in Dorset…

Das vierte knüpft wohlgemerkt nicht an das erste Kapitel an, sondern in diesem vierten Kapitel ist Old Filth ein wenig jünger als im ersten. Das ganze lange Leben der Hauptfigur würfelt die Autorin durcheinander.

Warum müssen anspruchsvolle Autoren immer zwischen den Zeiten springen? Ich richte mich gern behaglich in einem Roman ein, nicht nur mit den Figuren, sondern auch in ihrer Umgebung, und das Herumgehopse zwischen Jahrzehnten, Kontinenten und UK-Regionen in diesem Roman irritiert mich. Aber lineares Erzählen (und so lesen zu wollen) ist wohl zu primitiv.

Erzählerische Schwächen kommen hinzu:

Anfangs schreibt die Autorin zu viel im Rückblick – “Show, don’t tell”möchte man rufen. Pat Ingoldby, Jugendfreund der Hauptfigur, redet als Teenager weitaus zu altklug – er klingt wie ein auktoriales Instrument, nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut im Gegensatz zu den anderen Figuren.

Und: Ab dem zweiten Drittel erwähnt Jane Gardam mehrfach unerklärt eine mysteriöse Begebenheit:

the Ma Didd’s affair, the affair that was – and still was – his closed, locked box… since the Ma Didd’s horror… “tell me about Ma Didds. Go on. You’ll have to tell somebody, some day.”

Die Aufklärung kommt natürlich erst am Buch-Ende. Solche billigen Spannungstricks gehören weggeschlossen in eine Kiste.

Ungut auch: weitestgehend erzählt die Autorin aus Perspektive ihrer Hauptfigur. Vereinzelt wechselt sie jedoch die Perspektive, sogar zu kleinen Nebenfiguren, wie hier:

Afterwards the Colonel wondered…

Solche Perspektivsprünge irritieren mich nicht weniger als chronologische Hüpfereien.

Gegen Ende, wenn es auf den Tod der Hauptfigur zugeht, raunt die Autorin allzu sehr, und sie flicht sogar noch erwünschte Begegnungen mit Geistlichen ein. Einige sehr wichtige Momente der Handlung habe ich im Roman gar nicht mitbekommen, sondern erst Rezensionen entnommen.

Sätze:

Mein Lieblingssatz ist ungewöhnlich bildlich; hier wendet sich Old Filth an seine neulich verstorbene Frau Betty:

Filth turned to Betty on his interior telephone to ask what she thought about it, but Betty had left the phone off the hook.

Fast durchgehend klingt Jane Gardam pointiert bis originell, nur ein Satz irritiert durch Banalität:

Great games are played on the Underground, she thought, the premier sport being that everyone avoids everyone else’s eyes. Oh, how happy I am to have enough to think about.

Dieser Roman ist ganz und gar nicht:

  • Ein unterhaltsames Ehedrama mit Untreue und flotten Dialogen
  • ein Bericht über finanziell sorgloses Expatleben in Hongkong vor 1997
  • voller Humor

Unterschiede zwischen Ein untadeliger Mann/Old Filth #1 und Eine treue Frau/The Man with the Wooden Hat (Old Filth #2):

Jane Gardam schrieb #2 weitaus chronologischer und damit leichter zu verfolgen, und #2 klingt auch sonst weniger verrätselt. #2 spielt zum größeren Teil in Hongkong, #1 eher in England.

Buch 1 erzählt aus Perspektive des Mannes; das zweite Buch erzählt aus Perspektive der Frau; es liefert dabei wenig aus dem ersten Band bekannte Ereignisse in neuer Darstellung, sondern eher neue Szenen, mit Ausnahme des Alterssitzes in Dorset und der letzten Jahre beider Hauptfiguren. Die Frau ist unterhaltsamer, unkonventioneller und trotz schwierigster Jugend ohne das Kindheitstrauma des Mannes, auch deswegen wirkt #2 leichter. Teil 3, Last Friends, kenne ich nicht.

Assoziation:

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