Romankritik: Der Chor, von Anna Katharina Hahn (2024) – 4/10

Ich fühlte mich bocklhart zugelabert – vor allem im letzten Drittel mit schwer nachvollziehbaren Verwicklungen, Entscheidungen, Figuren, einer völlig unrealistischen Paarung und Begegnung (sofern ich das richtig verstand). Ich kämpfte verbissen bis zur letzten Seite.

Alle Hauptfiguren sind Frauen, die meisten Nebenfiguren auch, und es geht ausführlich um ihre  Selbstdarstellung bis hin zu Labello, Finger- und Zehennägel lackieren, Achselhaare, Perücken, dazu Zerwürfnisse, Unfruchtbarkeit, Erbrochenes (mehrfach), Tierausscheidungen (mehrfach), Pflegehunde, Pflegemäuse, Pflegeschlangen, wunderliche doppelte Identität. Zwei männliche Partner und ein Sohn bleiben blasse Chargen in diesem Suhrkamp-Roman, zum Schluss schnell noch Vergewaltigung und Mord, also ich meine sexualisierte Gewalt und Femizid.

Anna Katharina Hahn berichtet mit großen und kleinen Rückblenden. Alice sieht Marie jede Woche im Chor, kennt wichtige Stationen aus Maries Leben, doch sie sind verkracht und Alice scheint Angst vor Marie zu haben. So viel wissen wir von Anfang an; nur wie es zum Bruch kam, das verschweigt Anna Katharina Hahn hartnäckig – ein billiger Trick, um die Spannung zu erhalten. Erst auf Seite 160 von 282 hören wir von einem Wutausbruch Maries, der ist allerdings kaum nachvollziehbar.

Dramatisch kompliziert klingt auch die Beziehung zwischen Alice und der verdrucksten Studenten Sophie, sie ließ mich spätestens nach Aufdeckung von Sophies Perücke und Doppelspiel völlig kalt.

Der Roman erinnerte mich an ARD-Degeto-Spielfilme: gut situierte Mittelschichtmenschen mit schicken Wohnungen, Kleidern, Daimler, Audi (je nach freundlicher Unterstützung), und völlig unrealistisch. Während Profikritiker den Roman loben, wird er von Heimlesern auf Amazon und Goodreads eher schlecht bewertet – ein bisschen Lektorat hätte das verhindern können.

Die Sprache

stößt nicht ab, glänzt aber auch nicht. Das historische Präsens macht es nicht besser. Die wenigen Dialoge in diesem Suhrkamp-Band haben keine Zwischentöne – obwohl die Frauen Geheimnisse verbergen –, sie klingen wie Erzählstimme zwischen Anführungszeichen.

Mäkeleien:

  • “Nec fluctuat nec mergitur” sei der Wahlspruch von Paris (Seite 211). Das erste “nec” muss weg.
  • “‘Ein Glück, das ((sic)) Baby-Soph nicht da ist’” (Seite 225)
  • Überflüssige Anglizismen wie “White Trash Girl”, “Time-Slot” oder “Sale“ (in der Erzählstimme, nicht in wörtlicher Rede)
  • Dativ-e, unter anderem “am Rande” (Seite 42, 138), “am Fuße des Weinbergs” (Seite 274), “im Laufe der Jahre“ (Seite 81, ebd. “auf dem Land“)
  • “beim Anblick ihrer anbetenden Augen“ (S. 106)
  • “Aufruhr der Grands Boulevards” (S. 158) für normal belebte Straßen in Paris
  • “Den dunklen Wollmantel hatte sie wie einen Ersatzreifen zuunterst in die Tasche gepackt” (Seite 195) – Ersatzreifen in die Tasche?

Und:

  • Ich mag keine symbolschweren Träume und auch keine Fremdsprachen, die ich nicht durchgehend verstehe, wenn sie nicht übersetzt werden, hier Estnisch, Latein, Englisch und Französisch
  • Die resolute, auf Äußerlichkeiten bedachte Personalchefin Alice ist mit dem übergewichtigen, rauchenden Steuerberater Fred, der Kannibalenfilme mag, zusammen – das scheint hier nicht zu passen, ebenso wenig wie später Alices Unterordnung unter die ungepflegte, viel jüngere Öko-Punkerin Talitha; auch dass Alice, die Schwarzarbeit bei Putzfrauen missbilligt, Haustiere, die ihr nicht gehören, endgültig “befreit”, wirkt unstimmig
  • “Auf keinen Fall will sie die Tiere mit der Hand fangen… klettern ohne Scheu in ihre Hand, so dass…” (S 243f)

Vergleich der Romane Der Chor (2024) und Kürzere Tage (2009) von Anna-Katharina Hahn:

Beide Romane spielen im gutbürgerlichen Stuttgarter Milieu unter Biodeutschen, mit ein paar proletarischen, teils nicht biodeutschen Außenseitern. Mittelalte Frauen dominieren die Handlung, Rentnerinnen haben tödliche Nebenrollen, Männer bekommen weit weniger Raum.

In beiden Romanen gibt es neben Figuren aus Estland auch ein bisschen estländische Kultur und vor allem in Der Chor Estländisch (die Autorin hat eine estnische Schwägerin). Beide Bücher liefern ein dramatisches Kriminalfinale.

Persönlich vom Rezessenten:

Auweia, ein Roman mit blau-gelb lackierten Fingernägeln, Chorproben per Videokonferenz, Gesichtsmasken sowie Corona-Husten. Über diese Zeit wollte ich nichts lesen, und Hauptfigur Alice denkt selbst:

Die Zoom-Zeit erscheint vor ihr wie ein schlechter Traum.

Ja. Immerhin liegt die erzählte Jetztzeit des Romans knapp nach den Corona-Lockdowns. Nur gelegentlich  tauchen Gesichtsmasken auf, teils in Erinnerungen.

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