Rezension 1950er-Hongkong-Memoiren: Gweilo, von Martin Booth (2004, US-Titel Golden Boy) – 7 Sterne – mit Presse-Links

1952 kommt der Engländer Martin Booth als Siebenjähriger mit seinen Eltern nach Hongkong und bleibt drei Jahre. Er erkundet die Straßen allein und ist bald mit vielen Händlern und Dienstboten befreundet. Er testet Knallfrösche und gebratene Käfer. Alle sind nett zum kleinen Martin, auch weil sein blondes Haar Glück verspricht.

Booth (1944 – 2004) beschreibt Hongkong als gefahrfreien, großen Abenteuerspielplatz voll freundlicher Menschen, mit denen er auf Englisch oder Kantonesisch reden konnte. Er stellt Gerichte und Straßen genau vor und schildert viele Begegnungen in Kurzportraits. Booth lebt meist mit seiner Mutter zusammen, während der Vater im Koreakrieg oder im Büro ist.

Booth erzählt über 366 Seiten plus Glossar, doch die einzelnen Episoden beanspruchen kaum mehr als zwei oder drei Seiten. Manche Aspekte kehren jedoch viele Seiten später wieder.

Freie Assoziation:

Fazit:

Der erfahrene Autor Booth erzählt sehr flüssig und gekonnt, mit Sinn für markante Sätze und Aufbau einer Geschichte; man fühlt sich sofort nach Hongkong versetzt. Ton und Blickwinkel sind sympathisch jungenhaft, doch nie zu kindlich; tatsächlich erscheint Booth mit seinem unermüdlichen Forscherdrang eher frühreif. Die Sprache ist nur momentweise zu altmodisch oder eitel adjektivverliebt. Booth liefert viele interessante Kurzportraits, doch genauer lernen wir nur ihn und seine Eltern kennen.

Der Mutter schreibt Booth viele herrlich trockene Sprüche zu, ihr Leben mit vielen chinesischen Freunden kommt jedoch zu kurz. Der Vater ist immer selbstmitledig, selbstgerecht und alkoholgeneigt. Die Konflikte zwischen den Eltern und Booths eifernde Parteinahme für die Mutter stehen als Fremdkörper im Buch.

Dass Booth den Vater aufdringlich schlecht darstellt, berührt unangenehm. Möglicherweise hat Booth einige der vielen starken Szenen und Zitate nicht erinnert, sondern er- oder nachempfunden; aber es klingt nie unwahrscheinlich und stört darum wenig.

Vergleich mit anderen Hongkong-Büchern:

Insgesamt ist Gweilo (Kantonesisch für weiße Fremdlinge; US-Titel Golden Boy) eine liebenswerte Lektüre, wenn auch vielleicht mit zu wenig Schärfe (abgesehen vom Konflikt der Eltern) und zu nostalgisch verklärt. Ihr fehlt das gewisse Etwas von Hongkong-Büchern wie Kowloon Tong, Alle Herrlichkeit auf Erden (engl. A Many-Splendoured Thing) oder The Monkey King – auch wenn Booth das Leid der in Hongkong nach Krieg und Mao Gestrandeten häufig anspricht.

Martin und seine Eltern leben lange in einem Hotel, in dem auch Freudenmädchen arbeiten und ein einsamer Weißer wohnt – das erinnerte mich an die Hongkong-Geschichte Suzie Wong (die Booth kurz erwähnt). Der Koreakrieg spielt bei Booth wie auch in Alle Herrlichkeit auf Erden eine Nebenrolle.

Im Vergleich zu den genannten Büchern schildert Booth Hongkongs Vielfalt als etwas liebenswerter, auch wenn er nie Vollständigkeit zum Ziel hat. Im Kapitel über die Anreise beschreibt Booth auch das Leben auf dem P&O-Dampfschiff interessant. Diese Gesellschaft erscheint etwa auch bei W. Somerset Maugham, Richard Francis Burton, vermutlich auch bei V.S. Naipaul, Joseph Conrad und vielen anderen britischen Hot Country-Autoren; die genaueste Darstellung liefert jedoch Booth.

Nicht zu kindlich:

Obwohl Booth aus seiner Grundschulzeit erzählt, ist der Inhalt nicht zu kindlich. Mit viel interkultureller Neugier streift Booth durch unterschiedlichste Viertel – einschließlich dem ihm verbotenen Kowloon Walled City, wo er sich mit Mafiosi anfreundet. Booth schreibt auch Kurzportraits vieler in Hongkong Gestrandeter, Europäer ebenso wie Asiaten, vor allem Festlandchinesen. Diese Portraits hätte er vertiefen sollen, um dem Buch mehr Substanz zu geben (über den Verrücktesten aller Gestrandeten schrieb Booth das separate Buch Hiroshima Joe).

Auch über die Entwicklung der Mutter hätte man gern noch mehr gehört: Joyce Booth ist genauso neugierig auf die fremde, neue Welt wie ihr Sohn, sie belegt Kurse für Kantonesisch und chinesische Kultur; der Vater interessiert sich nur für Pink Gin und Schlaf nach Feierabend. Martin Booth und Mutter kehrten später dauerhaft nach Hongkong zurück.

Vielleicht hatte Booth aber auch nicht mehr die Zeit, spätere Hongkong-Erfahrungen oder das Leben seiner Mutter genauer zu beschreiben: Wie er im Vorwort schreibt, begann er 2002 mit der Niederschrift von Gweilo, als er schon mit einem unheilbaren Gehirntumor diagnostiziert war.

“Madly, totally in love with Hongkong…” – Presse-Links zum Buch:

New York Times:

…deplorable phonetic pidgin…observations are marvelously detailed, if sometimes suspectly so.

Washington Post:

a vivid recreation of a lost time and place, and a quite unsparingly candid portrait of a marriage in disarray. There is a great deal of dialogue in it

Denver Post:

A nearly golden childhood… The inquisitive son of a Royal Navy civil servant, he gained entrance everywhere in his explorations, gladly welcomed by all Chinese

The Guardian (in einer Liste der zehn besten Hongkong-Bücher):

Full of colour and incident, a childhood memoir that is also a history of Hong Kong in the 20th century.

The Telegraph, David Rennie:

Booth, admitting he came to hate his father, painstakingly builds a case against him. He recalls episodes of paternal racism, insecurity and venom

The Telegraph, Mark Sanderson:

It has such pace and power… above all, a celebration of an enviable start in life… There are some great comic moments too.

Asian Reviews of Books:

a combined social history, autobiography, hagiography (with regard to his mother) and character assassination (his father)…

Mattviews.wordpress.com:

Sometimes very novelistic for a memoir, is full of color and anecdote, wit and originality… a very engrossing read

Sam Smith:

The prose such that we straightaway know that we are in safe hands… what shines through this memoir is Martin’s love of humanity, his delight in people

Goodreads.com: 4,12 von 5 Sternen (748 Stimmen, Juni 2015)


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