Kritik Kurzgeschichten: Liebes Leben, von Alice Munro (2012, engl. Dear Life) – 7/10 Sterne

Alice Munro schreibt sehr realistische, plastische Erzählstimmen und Dialoge. Ihre Kurzgeschichten wirken undramatisch sowie nicht geschriftstellert rundgeschliffen und dadurch vielleicht realistischer. Allerdings flanscht sie mehrfach sehr heterogene Handlungsteile aneinander und bringt wenig glaubhafte Wiederbegegnungen nach Jahrzehnten des Auseinanderseins.

Munro klingt minimalistisch präzis, ohne männliche Herbheit à la Raymond Carver oder teils Richard Yates. Jedes Wort sitzt, und wenn man sich mal über eine Wortwahl wundert, lastet man es nicht Munro an, sondern dem eigenen Nicht-Verstehen.

Assoziation:

 Die Geschichten im einzelnen:

x von 10
Stimmen ᛫ engl. Dear Life

Nachbarschafts-Tanzveranstaltung in der kanadischen Provinz kurz nach dem 2. Weltkrieg. Eine Teilnehmerin hat einen schlechten Ruf. ᛫ Klingt beklemmend nach Jugendmemoiren, enthält aber evtl. Fiktionales. Intensiv. ᛫ Assoziation: Nicht unähnlich der Tanzveranstaltung aus Rotes Kleid – 1946 (s.u.), ebenfalls aus Jugendsicht geschildert. Unrühmliche Frau in Nachbarschaft auch in Geschichte Dear Life, s.u. Engl. Volltext.

8

Zug ᛫ engl. Train

Kriegsheimkehrer wird von armer Einsiedlerin aufgenommen. ᛫ Interessante Entwicklung, interessante Figuren, interessantes Leben, gute Erzählstimme, sehr überzeugend – in der ersten Hälfte. Jedoch immer wieder Handlungssprünge, die man erstmal verarbeiten muss, und die zweite Hälfte wirkt willkürlich angepfropft (ich kenne nur die Online-Zeitschriften-Version, nicht die offenbar längere Buchfassung) ᛫ Assoziationen: momentweise die Hemingway-Kurzgeschichten The Battler (Junge springt im Wald vom Zug) und Big Two-Hearted River Teil 1 (Ruhe in der Einsamkeit); einen Mann, der zu seiner im Krankenhaus liegenden Frau in die Stadt zieht, gibt es auch in Abschied von Maverley (s.u.)

7

Japan erreichen ᛫ engl. To Reach Japan

Heterogener Themenmix: Angehende junge Dichterin betrinkt sich peinlich auf Verlagsparty; Weg in die Ehe; Kinderbespaßung im Zug; Schäferstündchen im Zug, während Töchterchen abhanden kommt; Träume von Untreue. ᛫ Aber in 1A Munro-Parlando, mit vielen interessanten Aspekten und unerwarteter Rundung am Schluss. ᛫ Assoziation: Der Beischlafwagen in John Updikes Bech-Geschichte His Oeuvre, ebenfalls über einen Autor

7

Mit Seeblick engl. In Sight of the Lake

Ältere Frau verzettelt sich etwas auf dem Weg zum Demenzarzt. ᛫ Milde Verwirrtheit und der Kampf dagegen in einer beklemmenden Geschichte. ᛫ Assoziationen: Demenzthema auch in der Munro-Geschichte Der Bär kletterte über den Berg im Band Himmel und Hölle. Mehrere Blogger meinen, bei dieser Geschichte sei ausnahmsweise der Ausgang absehbar; das dachte ich nicht, auch wenn der Text tatsächlich linearer und klarer scheint als andere, trotz des Themas. Andere Blogger fühlten sich an John Cheevers halluzinierenden Schwimmer erinnert.

7,5

Kies ᛫ engl. Gravel, ersch. 2011 im New Yorker

Kindheitserinnerungen an die unbürgerliche Patchwork-Familie und eine Tragödie. ᛫ Schöne Kinderstimme, selbst wenn die Ich-Erzählerin im Rückblick auf vergangene Jahrzehnte berichtet. Die Lücken gegen Ende wirken etwas zu effektorientiert dramatisierend – ungewöhnlich für die sonst so betont beiläufige Alice Munro.

7

Amundsen ᛫ ersch. 2012 im New Yorker

Junglehrerin unterrichtet im tiefsten kanad. Winter in Sanatorium für TBC-kranke Kinder. Sie und der Arzt kommen sich näher. ᛫ Zunächst driftet die Geschichte ereignislos dahin, wenn auch mit gutem Dialog. Dann verhält sich die Ich-Erzählerin kaum nachvollziehbar und löst so neue Entwicklungen aus. Der Arzt legt noch eine Überraschung obendrauf. Anfang und Ende ähneln sich aufdringlich, jeweils mit Wartehalle und Zug, auch wenn Munro noch einen Epilog anhängt. Munro erzählt halbwegs linear, doch die wichtigsten Sätze der Geschichte verschleppt und erzählt sie mit Verspätung, das geht nur mit Plusquamperfekt:

he had… been talking so earnestly… What he was saying then…

Der Trick wirkt billig.

᛫ Assoziation: Wie so oft bei Munro: eine Geschichte aus jungen Jahren, und gegen Ende tritt die Erzählerin zurück und wir gewärtigen, dass sie aus dem Abstand vieler Jahre erzählt hat. Und eine ach so zufällige Wiederbegegnung. Bei der 2. Lektüre habe ich viele neue Dinge entdeckt – warum verschwieg Munro das beim 1. Mal? Die deutsche Wikipedia zeigt die Unterschiede zwischen Zeitschriften- und Buchfassung (ich kenne von Amundsen nur die Buchfassung und habe alle Geschichten hier auf Engl. gelesen, teils jedoch die Online-Zeitschr.fassungen). Schlecht gelaunter Arzt wg. verstorbener Patienten, das gibt es auch in der Geschichte Heimstatt (s.u.)

6,5

Abschied von Maverly ᛫ engl. Leaving Maverly, ersch. im New Yorker 2011

Junge Frau aus religiöser Familie und junge Lehrerin durchlaufen mehrere Beziehungen. ᛫ Wie so oft verschiedene Handlungsstränge seltsam zusammengestöpselt (die ersten Seiten über ein Kleinstadtkino, originell, aber es verschwindet dann ganz). Für Munro-Verhältnisse zügiger Fortgang, viel Haupthandlung. Mind. 1 unwahrscheinliches Wiedersehen nach Jahren – strafbar (aber typisch Munro). ᛫ Assoziation: ; einen Mann, der zu seiner im Krankenhaus liegenden Frau in die Stadt zieht, gibt es auch in der Geschichte Zug (s.o.)

6,5

Heimstatt ᛫ engl. Haven, ersch. im New Yorker 2012

13jährige beobachtet Gastfamilie mit bräsig selbstgefälligem Mann und unterwürfig mausgrauer Frau. ᛫ Schöne, beklemmende Beobachtungen, die tyrannische Selbstverliebtheit des Mannes evtl. etwas übertrieben, Munro verwendet das schöne Wort “lordly”. ᛫ Assoziation: Frau erinnert sich an junge Jahre, das gibt es oft bei Alice Munro; diesmal erscheint die erzählte Jetzt-Zeit nur sehr knapp. Schlecht gelaunter Arzt wg. verstorbenen Patienten, das gibt es auch in der Geschichte Amundsen (s.o.)

7,5

Stolz ᛫ engl. Pride, ersch. 2011 in Harper’s

Eine spannungslose Mann-Frau-Bekanntschaft über viele Jahrzehnte. ᛫ Die Geschichte enthält mindestens eine sehr dumme sowie eine unfassbar dumme, jeweils existentielle Entscheidung (ich weiß nicht, ob das Humor sein soll). Das führt zwar zu einer hübschen Symmetrie am Story-Ende, wirkt aber weitaus zu konstruiert (ungewöhnlich für Munro). Der Ich-Erzähler beklagt leise, aber ständig sein Abgelehnt-werden wegen einer unsauber korrigierten Hasenscharte, es erinnert an Klagen über Diskriminierung wegen Geschlechts, Hautfarbe oder sexueller Identität. ᛫ Eine der wenigen Geschichten aus Liebes Leben, die nicht zuerst der New Yorker druckte. Hatte der sie abgelehnt? Die Geschichte wird weithin gelobt, aber einmal auch verrissen. – Assoziationen: Ungewöhnlich der männliche Ich-Erzähler, wie auch in der Geschichte Danke für die Schlittenfahrt (aus der Sammlung Tanz der seligen Geister, 1968). Ich ging eine Weile von einer Ich-Erzählerin aus. – Große Parallelen zu Corrie, der im Buch unmittelbar folgenden Geschichte, u.a. die belastende milde Entstellung (hier Hasenscharte, dort Hinkebein) und die seltsam ziellose, reiche Hausbesitzerin; interessant, dass die beiden inhaltlich verwandten Geschichten im Buch aufeinander folgen.

6,5

Corrie ᛫ 2010

Zum einen: ein Betrug zieht eine Erpressung nach sich, die wiederum… Und andererseits die Beziehung zwischen einer orientierungslosen Reichen und einem verheirateten Ärmeren. ᛫ Für Munro-Verhältnisse ein Krimi. Frühe Hinweise auf tatsächliche Zusammenhänge erkannte ich erst beim zweiten Lesen.  ᛫ Assoziation: Große Parallelen zur Stolz-Geschichte unmittelbar vorher, u.a. die belastende milde Entstellung (dort Hasenscharte, hier Hinkebein) und die seltsam ziellose, reiche Hausbesitzerin (hier “spoiled rich miss. Unmannerly… both bold and childish”); interessant, dass die beiden inhaltlich so verwandten Geschichten im Buch aufeinander folgen. Von der Geschichte gibt es 3 leicht unterschiedl. Fassungen, kurz diskutiert in der dt. Wiki und sehr detailliert in diesem engl. Blogpost (ich kenne nur die engl. Fassung aus dem Buch Dear Life). Audio: Margaret Atwood liest und diskutiert die Geschichte.

7,0

Dolly

Ü70-Ehepaar plant Selbstmord, erhält Besuch von gesprächiger Avon-Beraterin, dann schwere Ehekrise. ᛫ Die Ereignisse wirken heterogen zusammengestöpselt, dazu ein unglaublicher Zufall, wie die Ich-Erzählerin selbst sagt:

the enormous or even supernatural joke of their finding each other

So etwas in Belletristik ist strafbar und konterkariert die sonst so nüchternen und undramatischen Munro-Plots. Dass die Avon-Beraterin wg. kaputten Autos bei dem Ü70-Paar übernachten und ihre Kinder bei Nachbarn lassen muss, erscheint nicht realistisch, das Ehepaar hätte sie auch nach Hause fahren können. Dialog und Ich-Erzählstimme wie immer sehr gut. ᛫ Assoziation: Wiederbegegnungen mit alten Flammen nach Jahrzehnten schreibt Munro öfter.

6,5

 
Hier beginnt der Buchteil Liebes Leben, laut Munro deutlicher, aber nicht komplett  autobiografisch. Es gibt viele Bezüge zu anderen Munro-Geschichten. Manche Litblogger finden den ersten Text Das Auge oder diesen ganzen Buchteil schwächer als Munro sonst, Hans’ Blog stimmt in etwa zu und empfiehlt v.a. Geschichte Liebes Leben.
Das Auge ᛫ engl. The Eye

Fünfjährige freundet sich mit selbstbewusster Zugehfrau an. Später soll sie in einen Sarg blicken, will aber nicht. ᛫ Schöne Szenen und Figuren, keine durchgehende Handlung. Eng verflochten mit den weiteren Stücken aus diesem Buchteil wie auch mit vielen anderen Munro-Geschichten. (Engl. Volltext.)

6

Nacht ᛫ engl. Nacht

Eine Blinddarm-OP mit einem Geheimnis, Schlaflosigkeit und eine überraschende Begegnung mit dem Vater. ᛫ Kein Zusammenhalt, kein Fluss. Enthält Seiten, an denen mein Auge, meine Birne keinen Halt finden, wegen raunender Sätze wie:

If you live long enough as a parent nowadays, you discover that you have made mistakes you didn’t bother to know about along with the ones you do know about all too well

᛫ Erschien nicht im New Yorker, sondern 2012 hier in Granta.

3

Stimmen ᛫ engl. Voices

Kleidung und Rituale bei kleinstädtischen Tanzveranstaltungen vor dem 2. Weltkrieg in Kanada. ᛫ Assoziation: Die Geschichte Stimmen, s.o.

Liebes Leben ᛫ engl. Dear Life, ersch. erstmals im New Yorker 2011

Ärmliche, aber sichere Kindheit einer Schülerin im ländlichen Nachkriegskanada. ᛫ Wenig Handlung, nur Figuren und Episödchen, doch makel- und müheloses  Munro-Parlando mit reizvollen Einblicken in eine fremde Welt. Wie sagt Munro im Text:

This is not a story, only life.

Sicher v.a. für Munro-Kenner interessant. ᛫ Assoziationen: bringt viele Motive und Themen aus anderen Munro-Geschichten, wirkt v.a. stark wie der biografische Hintergrund zur Geschichte Jungen und Mädchen (s.u.); eine unrühmliche Prostituierte in bürgerlicher Umgebung erscheint auch in der Geschichte Stimmen (s.o.); die “storm windows” des Farmgebäudes erinnern an ebensolche in John-Updike-Geschichten über die Farm seiner Mutter in Pennsylvania

7,5

Etwa sechs Geschichten fanden sich bei Redaktionsschluss auf Englisch auch online. Links zu 25 engl. Online-Texten von Alice Munro sind hier. Die Geschichten im New Yorker lassen sich jedoch ohne Abo oder mindestens Registrierung nicht alle an einem Tag öffnen.

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