Der Roman ist voll Selbstmord, Sex, Vergewaltigung, Haustierfixiertheit, Drogen, Bienen, Analem, Mini-Eseln, Muttertochterproblemen und Freaks. Die Autorin studierte Creative Writing in Kalifornien – so liest sich das auch, kreativ und kalifornien. Manche halten das für einen Qualitätsbeweis.
Das Buch braucht Triggerwarnungen für Hunde- und Menschenfreunde (ich gendere nicht), obwohl und weil eine Figur beruhigend zu Greta sagt:
“I’d shoot you before I’d shoot any dog.”
Weil die Hauptfigur die Therapiegespräche eines Psychoberaters transkribiert, kann die Autorin Verrückte und Sexfreaks noch und nöcher auffahren (manche scheinen jedoch kaum die 186US$ pro Sitzung zu haben); weitere Fälle für die Chlamü-, ich meine Klapsmühle, laufen frei in der Nachbarschaft herum.
Im letzten Fünftel dreht die Handlung völlig durch. Ein wichtiges Ereignis erfahren wir nur, weil Hauptfigur ein langes Gespräch rein zufällig vollständig im Café mithört – schwach konstruiert. Später verrät die Autorin Oms private Notizen, obwohl die Autorin sonst streng aus Gretas Perspektive erzählt – ein Perspektivbruch, noch eine Schwäche des Romans.
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Fucking Crap Turd:
Vulgärsprache mag Jen Beagin (*1971) auch. Auf den ersten drei Seiten allein begegnen uns die kostbaren Vokabeln fucking, crap, turd, noch mal crap. Gleich danach:
She’d always been less of a shit-talker and more of a shit-thinker
Später im Buch sagt sie lieber „poop“, und Psychoberater Om notiert allen Ernstes „bowel obsession syndrome“. Noch mehr Sprachkulinarik von Jen Beagin:
“I said her pussy smelled a tiny bit like fish sauce… even though I love fish sauce. I sprinkle that shit on everything.”
Die Autorin möchte wohl cool und fahrig klingen, so etwa über ihre Hauptfigur Greta, zeitweise eine Schreibkraft:
They talked, she typed, nighty-night.
Dann schmalzt die Autorin dahin:
((Big Swiss)) was even more beautiful than Greta had initially imagined… ((Big Swiss’ Köter)) sleek, silver, the most beautiful dog Greta had ever seen
Ähnlich hymnisch rezipiert Greta später auch Big Swiss’ (Flavias) Genitalbereich und Haus.
Lauschangriff:
Ich wollte die Lektüre öfter abbrechen, noch nach 150 von 322 Seiten der englischen Ausgabe. Ich konnte mich gleichwohl nicht losreißen, weil Jen Beagin immerhin ein interessantes Szenario konstruiert: Hauptfigur Greta hat eine Affäre mit der Frau, deren Therapiesitzungen sie transkribiert, ohne dass die andere davon weiß.
Psychoberater Om klingt komplett unrealistisch – wie er seine Klienten mit unpassenden Zwischenfragen unterbricht und wie er seine Schreibkraft Greta nicht kündigt, nachdem diese Geheimnisse ausplauderte.
Witzigste Stelle: Big Swiss hatte mal einen Hund namens Ruderboot (dies im englischen Text).
Assoziation:
- der Roman Writers & Lovers (2020) von Lily King – auch dort gibt es eine Schreiberin, die ärmlich mit einem Vermieter ein ungewöhnliches Anwesen im Außenbereich bewohnt, von ihrem Restaurantnebenjob und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung erzählt
- Auch Auf allen Vieren von Miranda July erzählt exzentrisch von einer mittelalten Frau mutmaßlich zu Beginn der Wechseljahre und von viel (aber eher imaginiertem) Sex
- “Big Swiss simply looked like the owner of a mink ranch“ – der Satz erinnert an viele Kurzgeschichten zur Jugend von Alice Munro, auch wenn die Autorinnen extrem unterschiedlich schreiben und die Figuren bei Alice Munro nie Nerzmäntel tragen, anders als Big Swiss
- Naoise Dolan rezensiert den Roman teils kritisch und informiert pingelig über die Unterschiede zwischen den deutschen Wörtern Dirndl und Tracht
- es ist einer dieser Romane, die auch in der deutschen Übersetzung den englischen Titel behalten, so dass man beim Bestellen aufpassen muss
