Wiederkehrende Eigenschaften:
Bedeutungsvolle Symbole wie abblätternde Tapeten, verbleichende Fotos; lebendig gezeichnete Personen und Kulissen; hervorragende elegante Sprache (ich kenne nur das englische Original); Interessantes aus der Vergangenheit wird angedeutet und nicht erzählt; etwas zu viel Körperfunktion, Dreckiges, Böses überraschend, mehr als in späteren Bänden
Wie in ihren anderen Sammelbänden meist auch: äußerlich interessieren mich Munro-Figuren selten: die Religiösen, die einfachen Leute aus verflossenen Jahrzehnten, die Frauenverbraucher, die unberechenbar Exzentrischen – kleine graue Leute in kalten grauen Kleinstädten; aber Alice Munro beschreibt sie so interessant.
Ihre Figuren, ihre Handlungen und Dialoge verlaufen leicht ungewöhnlich, dabei nie unrealistisch und ohne wohlgeformten Handlungsbogen; deshalb wirken sie so lebensecht.
Die Sprache klingt perfekt aufgeräumt und eingekürzt auf das Wesentliche, ohne ein falsches Wort, ohne Effekt, ohne Muff oder eine Peinlichkeit. (Ich kenne nur das englische Original, und zwar in der Buchausgabe; die zuvor veröffentlichten Magazinversionen unterscheiden sich meist von den Buchfassungen).
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Ich las acht der elf Geschichten aus The Progress of Love, die für mich eine durchschnittliche Wertung von 7,0 erreichten. Im einzelnen:
Das Wachsen der Liebe, engl. The Progress of Love (1985) – 7,5/10
Das ist vertrautes Munro-Gelände: eine geschiedene Mutter erzählt von ihrer ländlichen Kindheit ungefähr in den 1950ern, von ihrer Mutter und deren Mutter. Manche Dinge erweisen sich Seiten später als falsch.
Monroe schreibt meisterlich, Charaktere und Atmosphären werden deutlich. Ein paar Mal lachte ich erschrocken auf.
Zeitweise konnte ich nicht alle Frauen exakt auseinanderhalten, weil Munro zu oft Personalpronomina statt Hauptwörtern verwendet und unentwegt zwischen Generationen und Zeitebenen springt – das liest sich zwar flüssig, ist aber nicht glasklar. Die Parallelen zwischen abblätternden Tapeten und Haut- sowie Schönheitscremeschichten klingen einen Tick aufdringlich.
Flechten (1986, engl. Lichen) – 7,5
Stella bekommt Besuch von ihrem langjährigen Exmann David, der seine aktuelle Geliebte Catherine mitbringt und heimlich seine neueste Eroberung Dina anrufen will.
Für Munro-Verhältnisse ist dies eine einfachere Geschichte: wenige Personen weitgehend auf einer einzigen Zeitebene, kaum Zeitsprünge und eine leicht zu verfolgende Handlung. Alice Munro schreibt verächtlich über alternde Frauenkörper, wohl aus Sicht Davids, ein ekliger Zyniker mit freundlicher Fassade, der seiner Ex von neuesten Weibergeschichten erzählen muss und noch nie treu sein konnte; Munro schrieb David zu eindeutig schuftig. Die Story hat nicht die Tiefe der Titelgeschichte, ist aber immer noch sehr gut und eingängiger, näher an der heutigen Zeit.
Monsieur les Deux Chapeaux (1986) – 7,5
Zwei Brüder, eine Ehefrau, eine Mutter und ihr Partner, eine Freundin des Hauses: Dieses Personal sitzt zusammen und redet über ein dramatisches Ereignis in der Vergangenheit; und bastelt gefährlich an Autos.
Wie so oft schafft Alice Monroe leicht schräge und darum umso realistischere Figuren – solche Typen kann man nicht erfinden, und sie sind nicht unrealistisch krass. Die Zeitsprünge zwischen erwachsenen und kindlichen Brüdern gelingen wie immer sehr flüssig, ebenso wie die Wechsel zwischen parallelen Dialogen in verschiedenen Zimmern bei einer Abendgesellschaft.
- Assoziation: auch die Ice Rink-Geschichte weiter hinten im Buch handelt von zwei Verwandten jungen Männern (Cousins) mit Gemeinsamkeiten und wesentlichen Unterschieden
Fits – 6,5:
Ein älteres Ehepaar stirbt zu Hause durch Schusswaffen unter unklaren Umständen. Alice Munro beschreibt vor allem, wie die Nachbarfamilie und andere Kleinstadtbewohner darauf reagieren.
Alice Monroe erzeugt zu billig Spannung. So lautet gleich der erste Satz:
The two people who died were in their early sixties.
Doch Details erfahren wir erst Seiten später. Und dann wandert Hauptfigur Peg ein oder zwei Seiten lang durch ein Nachbarhaus, in dem sie auf Leichen stoßen wird; Peg ahnt nichts, der Leser aber weiß es und schaudert erregt; Alice Munro walzt die Spannung zu breit aus.
Gegen Ende gibt es überraschende, ablenkende Rückblenden und Abschweifungen – und eine Widersprüchlichkeit, welche die Autorin nicht aufklärt.
Der Mond über der Eisbahn (engl. The Moon in the Orange Street Skating Rink) – 7/10:
Zwei arme Teens und eine arme Teenagerin, die sehr erwachsen agieren (müssen).
Atmosphärische Geschichte mit zwei Zeitebenen, die 50 Jahre auseinander liegen. Prekäre Situationen und eigentümliche Auswege. In der üblichen, durchgehend sehr hohen Qualität, aber mit für mich uninteressantem Personal.
- Assoziationen: auch die Chapeaux-Geschichte weiter vorn im Buch handelt von zwei verwandten Jungmännern (Brüdern) mit Gemeinsamkeiten und wesentlichen Unterschieden; der Titel und der künstliche Mond erinnern an den Film Paper Moon
Jesse and Meribeth – 7/10:
Zwei Schulfreundinnen und ihre Geheimnisse.
Zunächst eine nette Schülerinnengeschichte, sehr lebendig und einfühlsam, danach eigentümliche Lügen und Fantasien. Wie immer blendend erzählt.
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Queer Streak (1985) – 7:
Was für eine Familie. Der Vater sagt,
he was a man with a mule for a wife and a hooligan daughter running his house
Im zweiten Teil ist die Hooligan-Tochter eine ältere Bankangestellte, dann Rentnerin, setzt sich mit Cousinen und Nichten auseinander, Fragen bleiben offen.
Auch sonst ist die Story ungewöhnlich:
- Sie hat fast die Länge einer kurzen Novelle
- Der Kriminalfall im ersten Teil könnte schneller gelöst werden; die Aufklärungsversuche überzeugen schriftstellerisch nicht nicht, Zaunpfahl-Hinweise werden ignoriert
- Religion spielt im ersten Teil eine wichtigere Rolle als sonst, Hauptfigur Violet liebt einen angehenden Pastor
- Todesfälle werden ein Jahr im voraus angekündigt, welch billige Dramatisierung, ansonsten eine ungewöhnlich chronologische Erzählung
Noch komplett in zwei Teilen auf granta.com zu lesen.
White Dump – 6:
Die Männer spielen in der Geschichte die zweite Geige. Soweit, so Munro. Und auch dies:
Schon nach wenigen Seiten haben wir zwei oder drei Zeitebenen, stetig wechselnd, und drei Frauengenerationen – Sophie, Isabel, Denise. Die sind alle verheiratet, teils geschieden und neu liiert, die eingeheirateten Namen kommen dazu.
Stammbäume zum Buch brauche ich eigentlich nur bei Dickschiffen von Jane Austen, Vikram Seth oder den Buddenbrooks, aber hier hätte ich auch gern einen. Und eine Zeitleiste wegen der vielen Sprünge.
Im Vergleich zu den anderen Geschichten in diesem und anderen Büchern sind die Figuren für Munro-Verhältnisse relativ modern und vertraut, keine lehmbeschmierten Bauerntypen am Rand der Kleinstadt; außerdem spielt die Geschichte im sommerlichen Ferienhaus am See, nicht wie viele andere Geschichten in bitterkalten kanadischen Wintern.
Persönliche Erklärung des Rezionärs:
Drei der elf Geschichten habe ich nicht gelesen: Miles City, Montana, Eskimo sowie Circle of Prayer.
Die anderen Geschichten sind sehr intensiv und es strengt an, mehrere hintereinander zu lesen – sie wirken stets wie kondensierte Romane, auch mit kondensierter Wirkung auf Gemüt und Fantasie des Lesers. Dies mag für mich auch daran liegen, dass die Geschichten nicht ganz so verträumt und hermeneutisch sind wie in späteren Munro-Bänden.
Wie immer fällt es mir auch schwer, eine Kurzgeschichte direkt nach der anderen zu lesen, selbst dann, wenn ich mir direkt nach einer Geschichte zunächst Analysen etwa von Mookse & Gripes oder Buried in Print zu Gemüt führe. Bei meinem Lebensstil brauche ich für eine Geschichte oft zweieinhalb, drei oder gar vier Sitzungen – ebenfalls ungut.
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