Romankritik: Writers & Lovers, von Lily King (2020) – 7/10

Fazit:

Witzige, scharfe Dialoge und schöne Beobachtungen aus dem Familien-, Beziehungs-, Literatur-, Arbeitsleben. Doch die Autorin überfrachtet den Roman mit Problemen, vor allem mit Trauer:

Die Ich-Erzählerin trauert ausführlich um ihre verstorbene Mutter und ist zeitweise mit einem Witwer und Vater zusammen, auch dort wird getrauert; außerdem Trauer in der Literaturwelt; nicht zu vergessen Mini-Psychosen, Krebsverdacht, Prekariat, Wohnungsnot, Frauenfeindlichkeit. Und dann überraschend eine Extraportion Schmalz.

Effective Writing:

Lily King schreibt souverän, witzig, ergreifend, teils spannend, fast einen Tick zu glatt; man fragt sich, ob die Autorin für das Thema brennt oder ob es nur eine Schreibmarathon-Übung für die Literatur- und Creative-Writing-Absolventin ist.

Aber: Mehrere Hauptfiguren verloren Partner oder Familienmitglieder und trauern; ein fiktiver Schriftsteller schrieb einen fiktiven Roman über den Krebstod einer Mutter; dazu Männerschweine, #armutsbetroffen, Krebsverdacht, fiese Pfleger, kleine Psychosen, Panikattacken, Hirnschwurbel.

Die meisten Kalamitäten paradiert die Autorin gleich im ersten Absatz; sie liefert sogar ein kurzes Kapitel über verstorbene Mütter bekannter Autoren plus eine bewegte Erinnerung an eine suizidale Faulkner-Romanfigur. Nur über ihre bipolare Depression oder kolonial missbrauchte/unterdrückte Großmütter schreibt Lily King nicht.

Der Roman hat damit zu viel Trauer über verstorbene Mütter, Ehefrauen,  Schwestern, – momentweise fürchtete ich Heul-Orgien und gefühlige Exzesse à la Tiktok.

Im letzten Zehntel entwickelt sich die Handlung dann ungewöhnlich günstig für die Hauptfigur. Man fragt sich, wie  die Autorin ihre Hauptfigur auf den allerletzten Seiten doch noch demütigen könnte – denn ein Happy End scheint unpassend angesichts der vielen Probleme.

Die Ich-Erzählerin verlangt im Roman, dass man bei der Literaturdiskussion die persönliche Reaktion herausstellt und nicht Abstraktes wie “Mensch gegen Natur”. Bei der Rede auf einem Literatur-Podium erzählt sie nur Bedrückendes aus ihrem Leben. Muss wohl sein.

Markante Zwischentöne:

Andererseits: Lily King produziert  markante Dialoge voller Zwischentöne, welche die Ich-Erzählerin gelegentlich zu deutlich erklärt. Die Wortwechsel sind filmi, die Kinder zu altklug, aber sie alle intonieren hochgradig unterhaltsam:

Oscar Kolton elaboriert selbstironisch; der Brunchkoch gibt das restringierte Machoschwein; Mary Hand blafft extra-dry sarkastisch; Harry, der schwule Kellner, schwadroniert sonnig sophisticated:

premature commitulation

Wer trauert um wen:

Auch wegen der Rückblenden wirkt die Figurenschar etwas unübersichtlich – wer war Lover, wer ist Writer, wer Bruder, Vermieter, Chef, Bekannte der Mutter? Wer trauert um wen, wer hat schon veröffentlicht und wieviel Vorschuss?

Nach dem ersten Drittel bat ich die KI demütig um ein spoilerfreies Personenregister. Ein zweites Lesen bringt sicher neue Aufschlüsse.

Mein Lieblingskapitel ist der Brunch ab Seite 100. Hier gibt es nicht nur die gut getextete Choreographie in der Restaurantpatisserie, sondern auch die drollige Restaurant-Annäherung zwischen der Ich-Erzählerin und dem Schriftsteller Oskar Kolton und seinen Söhnen John und Jasper – gut getarnt warmherzig und eins der wenigen Kapitel, die optimistisch ausklingen (selbst wenn der Brunchkoch widerlich giftet) (der Schweinevater kommt erst später).

Das ist momentweise perfekt ungesüßte RomKom (samt obligatem nettem schwulen Freund), womöglich einst unabhängig vom Roman geschrieben. Ein paar andere kurze Kapitel klingen ähnlich „kabinettstück“, nicht zuletzt die zweite Begegnung mit Oskar Kolton und seinen Söhnen, diesmal bei den Koltons. Auch reinen Schmalz beherrscht Lily King, wie sie später beweist.

Der Roman wirkt inhaltlich wie stilistisch modern und heutig – mit peppigen Dialogen, prekären Künstlern, vagen Liebesbeziehungen, die in der Luft hängen, kurzen Kapiteln, leicht konsumierbar. Doch der Roman von 2020 spielt 1997, in einem verflossenen Erdzeitalter: es gibt keine Handys, keine sozialen Medien, kein SMS, kein PDF; Manuskripte gehen als Papierstapel raus, einige Protagonisten schreiben mit Schreibmaschine. Die Ich-Erzählerin wird laufend auf der Arbeit ans Festnetztelefon gerufen, verpasste oder bewusst nicht angenommene Anrufe spielen eine wichtige Rolle. Ich frage mich, ob dieser Roman über 1997 auch 1997 hätte erscheinen können.

Sprache:

Lily King bringt interessante Details aus der Gastronomie samt einschlägiger Ausdrücke, die ich mir von der KI erklären lassen musste (wozu hat man ein large language model in der Tasche?), wie ”deuce”, “ice water“, „BLT”, “OJ“ oder  „4-tops“. Auch andere englische Ausdrücke musste ich mir erklären lassen, etwa ”flip a bird” – oder finde ich das in einem normalen Wörterbuch?

Hektik und synchronisierte Bewegungsabläufe in Restaurant und Küche setzt Lily King exzellent in angemessene Sprache um, fast klingt der Stolz auf ihre literarischen Kunststücke durch (ich kenne nur das englische Original und kann die Eindeutschung nicht beurteilen).

Lily King schreibt im historischen Präsens, ein billiger Trick.

Assoziation:

  • Erstaunlich, wie deutlich sich Lily Kings Romane Euphoria und Writers & Lovers in Ton und Inhalt unterscheiden; hier schreibt ein Profi und keine selbstbesessene Egomonomanin; beide Romane zeigen eine Frau zwischen zwei Männern und gefielen mir trotz eines schäbig hingehuschten Endes, auch wenn Lily King nicht die Gravitas von Richard Yates, Jhumpa Lahiri oder Patricia Highsmith aufs Papier bringt
  • Lily Kings Kurzgeschichte Timeline klingt wie ein Outtake aus dem Roman: eine angehende Schriftstellerin wohnt prekär bei ihrem Bruder (diesmal hetero), es gibt Hochzeiten, niedliche Kinder, Kellnerjob und interessierte Männer
  • Die verpeilten Hauptfiguren von Lorrie Moore und die verhuschten jungen Frauen bei Alice Munro
  • Eine junge erfolglose alleinstehende Schriftstellerin in den USA als Ich-Erzählerin – wie in Yellowface von Rebecca F. Kuang, und beide Bücher haben bei mir ein knallgelbes Cover; aber das Buch von Lily King spielt 1997, ohne Handys und ohne soziale Medien, ein wichtiger Unterschied
  • Die Ich-Erzählerin des Romans ist stark autobiografisch geprägt, wie Lily King hier bei Lithub erzählt
  • Writers & Lovers ist einer dieser Romane, die auf Englisch und Deutsch mit demselben – natürlich englischen – Titel erscheinen, wiederum wie Yellowface und Euphoria; also aufgepasst beim Bestellen, zumal auf dem Gebrauchtmarkt

Romane über Romanschreiber:

Und es ist einer dieser Romane über  Romanschreiber, in denen man von ihren Romanen viel Allgemeines hört, aber keine Kostprobe liest; die Ich-Erzählerin schreibt nachträglich eine aufwühlende Vergewaltigungsszene in ihren fiktiven Roman, und auch von diesem Nachtrag lesen wir nichts.

Eine Freundin weist die Ich-Erzählerin und Erstlings-Autorin darauf hin, Dinge nicht nur zu nachrichtlich zu rekapitulieren, sondern auszuerzählen. Aber genau das tut die Ich-Erzählerin nicht; sie sagt:

I try to write something new. It’s bad and I stop after a few sentences.

Wieder gibt es keine Kostprobe; obwohl doch Autorin Lily King unterschiedlichste Tonlagen so gut trifft, sicher auch misslungene.

Auch der Satz

It all tastes so good.

der nicht weiter geklärt wird, unterenthusiasmiert mich. Eine Autorin, die den Kellnerjob so detailliert ausleuchtet, sollte auch die Produkte der schreibenden Ich-Erzählerin plastisch darstellen.

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