Romankritik: Café der Unsichtbaren, von Judith Kuckart (2022) – 6/10 Sterne

Judith Kuckart erzählt zunächst nicht uninteressant von der Telefonseelsorge in Berlin – von Seelsorgern und Anrufern. Der Roman beginnt annehmbar und baut dann stark ab:

Schwächen:

  • Kuckart schildert einzelne Episödchen und Anrufe. Von einer Romanhandlung kann keine Rede sein – ein paar Plot-Spurenelemente begegnen zu Beginn, und dann wartet man lange vergeblich auf Fortsetzung.
  • Kuckart verteilt ihre Aufmerksamkeit auf sieben ehrenamtliche und einen hauptamtlichen Seelsorger sowie auf allerlei Anrufer. Das wirkt unübersichtlich und unfokussiert.
  • Kuckart wechselt zwischen allwissender und Ich-Erzählerin, der Perspektivwechsel erfordert wiederholtes störendes Umschalten beim Leser. Dabei erscheint Ich-Erzählerin Frau von Schrey so selten, dass sie sich mitunter mitten im Buch erst wieder einführen muss. Das Zitat spricht für die Schwäches der Konstruktion:

Karfreitag vor einem Jahr bin ich, Frau von Schrey, ebenfalls…

  • Einiges Christliche und Spekulatives übers Jenseits, auweia, das ist noch schlimmer als die wiederkehrende Berlin- und DDR-Thematik (“Sommer 89”)
  • Teils meint man, die Autorin wolle selbst Erlerlebtes und Gehörtes irgendwie unterbringen, und sei es in erzwungenen Rückblenden, Anruferlisten und Tagebuchblättereien. Sie hält sich offenbar an ihre Anleitung aus dem Buch:

Wer erzählen wollte, musste einfach nur eine Zeit lang zugehört haben. Sie fuhr den Rechner hoch.

Da fragt sich der Leser mit einer Kuckart-Figur (S. 122):

Warum überhaupt fängt eine eines Tages an zu schreiben? Weil sie Geld verdienen oder weil sie sterben muss?

Sprache:

Kuckart schreibt zeitweise klares, unaffektiertes Deutsch mit gelegentlich knackigen Sätzen wie

Sie war so alt wie er, also zu alt für ihn.

Aber viel öfter bringt Kuckart wolkigen Schmarrn wie:

Theoretisch existieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, existiert also dieser frühe Gründonnerstagabend hier in Wandas Twingo gleichzeitig mit der Nacht und der singenden Nachtigall dort vor Riekes Dienstzimmer 2. Alles gehört in ein System von Dauer, und nichts verschwindet… Nichts geht verloren. Mein toter Mann und mein lebender Mann existieren gleichzeitig… Was für eine rätselhafte Aufgabe es doch war, ein Leben zu führen… nur wer ging, kam weiter… in meinem inneren Wäldchen des Alters verlaufen… in ihrer durchsichtigen Blase des Augenblicks…

Tippfehler fielen mir nicht auf, aber mehrfach schreibt sie “gleich”, wo es “selbe” heißen müsste, z.B. “im gleichen Jahr”, “dem immer gleichen alten Mathias” (sic). Diese Konstruktion behagt mir auch nicht:

Vor Stunden war es bei Emilia ein Topf gewesen, warum sie zurückkam.

Besser wären hier

  • …war ein Topf der Grund, warum sie zurückkam
  • …war es ein Topf, weswegen sie zurückkam
  • …war es ein Topf, dessentwegen sie zurückkam

Der Roman-Satz

Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich gleich wieder gehe!

stammt offenkundig von Serge Gainsburg (und wurde oft nachgesungen); Kuckart nennt Gainsburg jedoch nicht im Nachwort bei den Autoren, die sie während der Niederschrift las.

Gelegentlich nennt Kuckart reizvolle Details wie “eine billige Weißlacktür, Stil Baumarkt” oder selbstentwickelte Schwarzweißabzüge

in flachen Kartons mit dem Logo einer Firma.., die es schon lange nicht mehr gab

(Ilford? Kodak? Die Namen existieren doch noch?)

Zu Ende gehen gelassen:

Ich hielt das Gewuhre nicht bis zum Ende aus. Auf der 156. von luftigen 203 Seiten legte ich das Buch final weg und fühlte mich so befreit.

Ganz am Ende fragt die Erzählerin:

Wie will ich all meine Geschichten hier zu Ende gehen lassen? Ebenso gut könnte ich mich fragen, wie geht das Leben zu Ende?

Da wusste ich, ich hatte den Roman zu Recht vorzeitig zu Ende gehen lassen.

Assoziation:

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