Buchkritik. Goethe und Friederike, Wahrheit und Dichtung, von Theo Stemmler (2019) – 5 Sterne

Dies ist eine Plauderei unter Gelehrten, eine Materialsammlung, aber keine Teil-Biografie für Laien. Ein Narrativ, ein Gefühl für den Lauf der Zeit entsteht nicht: Bei der Gliederung orientiert sich Autor Theo Stemmler nicht an der Chronologie, sondern an unterschiedlichen Quellen, die mehrfach neu ansetzen, oder an undefinierten Kriterien. Goethes frühe Herzensdame Friederike Brion interessiert den Autor schon gar nicht, eher Goethes Herzenslyrik, die Friederike inspirierte.

Theo Stemmler zitiert wo immer möglich Zeitgenössisches, doch primärste Quellen fehlen: Es gibt keinen erhaltenen Brief, der zwischen den Turteltauben Johann Wolfgang und Friederike hin und her ging, nur ein Brief-Entwurf Goethes blieb erhalten. Es gibt auch kein authentisches Bild von Friederike. So zeigt das possierliche Insel-Bändchen allerlei farbige Bilder, alte Gemälde und Textdrucke oder neue Architekturfotos, aber eben nicht Goethes Friederike.

Langes Vorspiel:

Erst auf Seite 38 von 107 Seiten Haupttext erwähnt Goethe erstmals die “liebenswürdigen Töchter” Brion, Seite 39 bringt Goethes Briefentwurf an die Ses(s)enheimer Trouvaille: “Liebe neue Freundin…”.

Zuvor, bis Seite 38, produziert Anglist Theo Stemmler Goethes Vorleben, die Spannungen mit dem Vater und ein kompliziertes Kontaktnetz in Frankfurt, Leipzig, Straßburg – man wünscht sich ein Organigramm.

Und schon ein paar Dutzend Seiten später ist die historische Begegnung wieder vorbei – war da was? Stemmler befasst sich im letzten Buchdrittelchen mit historischen Deutungen der Friederike-Episode und vor allem mit den von ihr inspirierten Gedichten. Und ganz gegen Ende tritt plötzlich “Friederikes Vater, Johann Jakob Brion, geboren 1717”, auf. Gehört der nicht an den Anfang? Friederike selbst, sobald von Goethe abgelegt, wird vernachlässigt: der Autor gibt zu bedenken, dass

durch Goethes Verhalten niemand zu Tode kam

und berichtet nebenbei, dass Friederike schon 1813 ledig starb. Alte weiße Männer.

Zwar zitiert die Schriftstellerbiografie nicht aus Goethes verschollener Dissertation, die zur Friederike-Zeit entstand. Doch Stemmler bringt ausführlich Friederike-inspirierte Lyrik wie das Mailied, und regelmäßig zitiert Stemmler aus Goethes Dichtung und Wahrheit, hält aber das dort Geschilderte gut belegt eher für Dichtung als Wahrheit.

Mit gewohnter Überheblichkeit:

Autor Theo Stemmler verstopft seinen Text mit wertenden Adjektiven:

in gewohnt schöner Metaphorik… mit gewohnter Überheblichkeit… mit grotesker Genauigkeit… mit kleinlicher Präzision… zu einem wohlgeformten Schachtelsatz hinreißen… pubertiert er wetterwendisch, gelangweilt und überheblich… ziemlich arrogant… mit gewohnter Eitelkeit… ganz schofel und überheblich… ungemein treffenden Vergleich…  herrlich… eindrucksvoller, beispielhafter Schachtelsatz… arg dick aufgetragen und fast plump… ziemlich arrogante… absurde… völlig grotesk… nicht nur richtig, sondern auch brillant formuliert… gnadenlos nüchtern…

Diese Wertungen erscheinen unmittelbar vor den beurteilten Zitaten von Goethe u.a. – warum überlässt Stemmler die Einstufung nicht dem Leser?

Mehrfach erwähnt Stemmler Goethes

erotische Gefühle… erotische Chronologie… erotisches Ziel… erotische Situation… erotischer Ballistiker…

Ich glaube, Stemmler meint damit etwas anderes als sagen wir John Updike. Auf der letzten Seite hören wir noch von “erotischer Eindeutigkeit”.

Assoziation:

  • Ich dachte an andere vermeintlich einsteiger-orientierte, doch viel zu abgehobene biografische Fibeln, an die Julius-Caesar-Biografien von Wolfgang Will, Christian Meier und Martin Jehne.
  • Auch die Churchill-Biografie von Roy Jenkins ist eher Insider-Kommentar als Grundlagenvermittlung.
  • Nach der Goethe-Episode war Friederike ein geselliger, liebenswerter Single, so Stemmler. Das erinnert an die letzten Jahre von Goethes viel späterer Herzensdame Marianne von Willemer.

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