Biografie-Kritik: Billy Wilder, Eine Nahaufnahme, von Hellmuth Karasek (1992) – 6/10

Fazit:

Leicht lesbare, anekdotensatte und unkritische „Biografie” eines Menschen, der unterhalten will und auf Qualität achtet. Nebenbei ein bisschen Hollywoodgeschichte. Es gibt kaum Stimmen von Kritikern oder Mitarbeitern sowie kaum private Einblicke.

Anekdotenreigen:

Hellmuth Karasek (1934 – 2015) gibt dem Affen Zucker: er feuert eine Wilder-Anekdote nach der anderen ab, nicht etwa nur Filmzitate, sondern Aussprüche Wilders bei ihren vielen Begegnungen in Los Angeles und Berlin; Karasek klingt dabei auch angeberisch:

Während ich mit Billy Wilder durch den Rodeo Drive in Beverly Hills gehe, vorbei an den Luxusboutiquen und Markengeschäften, die den Schönen und Reichen von Hollywood die gleichen genormten Luxusartikel anbieten, wie sie auch in Paris auf den Champs-Élysées, in London in der Bond Street, in Zürich in der Bahnhofstraße oder um Mailands Dom herum zu finden sind, …

Aus der Nähe zu Billy Wilder (1906 – 2002) resultiert auch ein Highlight im Buch: mehrere Seiten voller Filmideen und Pointen aus Wilders Notizbüchern. Sogar von den Dreharbeiten berichtet Karasek vor allem Kuriosa: einmal fegten 100 Freiwillige ein Stück ägyptischer Wüste, das unerwartet voller Reifenspuren war.

Karasek kalauert gelegentlich auf eigene Rechnung mit  („Wildernde Umstände”). So geht es immer weiter. Kurze Kapitel mit kurzen Abschnitten und mehrere Bildteile steigern die Kurzweil. Karasek springt zwischen Filmen und Jahrzehnten hin und her, bespricht manche Filme in vielen Kapiteln zugleich und wiederholt sich gelegentlich.

Das Buch macht Lust darauf, nicht Karasek, sondern Wilder zu bingen – und nicht nur Wilder, sondern auch Ernst Lubitsch und Preston Sturges, die eigene Kapitel bei Karasek erhalten; wenn nur Bild- und Tonqualität nicht so antiquarisch wären. Die Tritte gegen Charlie Chaplins schlechte Dialoge sind vielleicht überflüssig.

Dichtung und Wahrheit:

Ich fürchte, dies ist eine „autorisierte”, also vom Hauptobjekt abgesegnete Biografie. So verstehe ich jedenfalls Karasek auf Seite 19:

…während Wilder und ich an Wilders Leben herumredigierten

Biografien, in denen der Biografierte *nicht* herumredigiert, sind mir eindeutig lieber. Hier aber stammt alles von Wilder und Karasek; Wegbegleiter, Zeitzeugen, Kritiker und Wissenschaftler kommen kaum zu Wort. Wilder arbeitete immer im Team – als Regisseur sowieso, aber auch als Drehbuchautor meist im Zweiergespann; doch von seinen Kollaborateuren hören wir kaum ein Wort über Wilder (nur ein klein wenig Lob von Marlene Dietrich, und ein paar lobende Tagebuchnotizen des Kinobesuchers Thomas Mann).

Das Buch ist immerhin unterhaltsam, in Wilders vermeintlichem O-Ton wie auch in den Zwischenstücken von Karasek. Es ist aber auch wie eine Musiker-/Regisseur-/Schauspieler-Doku auf Arte: es sprechen nur die Hauptakteure für sich, und ein paar Claqueure garnieren es mit Lob; kritisch Hinterfragen wäre Miesmacherei.

Eine gut selbstgeschriebene Autobiografie Wilders wäre sicher noch besser. Das würde ich dann als „Autofiktion“ betrachten und mich vermutlich gut amüsieren, ohne dass ich es glauben muss.

Denn kann man allem trauen, was Wilder über sich schwadroniert? Unentwegt gibt er in den 1920ern den Schlawiner, den Schwerenöter, den Notgeilen, Bankrotten und Kleinbetrüger – das wirkt ziemlich filmi, wie eine Wilder-Komödie. Die Außensicht fehlt. Karasek redet selbst von

der erinnernden Fantasie Wilders

Kratzen an der Oberfläche:

Wilder behauptet bei Karasek:

Mein Leben ist ein offenes Buch. Ein ganz klein bißchen pornographisch vielleicht – aber offen!

Doch von pornografischem oder auch nur privatem Wilderleben berichtet Karasek nichts. Wir hören kaum von Wilders Frauenbeziehungen oder Hollywood-Sozialleben, nur seine langjährige Ehefrau Audrey bekommt ein eigenes Kapitel, kurz und belanglos (so wie auch das Kapitelchen über Drehorte). Dann noch ein paar Sätze über Wilders Leidenschaft für Kunst und seine Akribie.

Hinter seinen gesammelten Anekdoten versteckt sich Billy Wilder erfolgreich. Und Wilder sagt selbst am Ende zu Karasek:

We didn’t even scratch the surface of my kaleidoscopic persona!

Behandelt Karasek die Vernichtung der Wilder-Familie im Holocaust? Ich erinnere mich nicht.

Länger und deutlicher als jeden anderen Wilder-Film preist Hellmuth Karasek den zähflüssigen Sunset Boulevard (Boulevard der Dämmerung, 1950), der über gefühlt zehn Kapitel verstreut immer wieder auftaucht. Karasek erklärt nicht, warum Wilder gern mit einem Partner schrieb, warum seine späteren Filme auf Theaterstücken oder bereits Verfilmtem beruhten und weniger freundlich beurteilt wurden.

Wiederholt dachte ich beim Lesen, dass ich ausnahmsweise nichts gegen die Zensur der Wilder-Filme hatte – ich mag keine zu expliziten Filme. Und gegen Ende des Buchs sagt Wilder in etwa dasselbe, im ureigenen Ton:

Für mich sehen ineinander verschlungene Liebespaare im Kino immer wie Brezeln aus. Insofern habe ich The Seven Year Itch lieber unter den damaligen Einschränkungen gedreht

Typografisch

unterscheidet das Buch nicht zwischen Wilders Erzählung, Karaseks Erzählung und Texten aus Wilders Feder – keine Kursivierung, kein Einrücken, nicht mal Anführungszeichen; mal mit, mal ohne Leerzeile dazwischen.

Bei jedem Absatz kann die Perspektive wechseln, man muss auf Personalpronomen und Substantive achten. Nur einmal fühlt sich Karasek zu einer Anmoderation gezwungen:

Nun wieder Billy Wilder:

Das Kapitel über die Hollywoodgeschichte erzählt Karasek allein, weitgehend ohne O-Ton von Wilder. Hier gibt es auch eine Folge von drei oder vier Sätzen, deren jeder das Hilfsverb „waren“ enthält. Und gelegentlich fragt man sich noch, wer jetzt redet, Karasek oder Wilder.

Karasek offenbart sein Kunstverständnis, dass keine Lust auf mehr von Hellmuth Karasek/Daniel Doppler macht:

Der Mut zur Geschmacklosigkeit, die Risikobereitschaft zur Entgleisung kennzeichnen das Genie: der Mittelweg führt zum Tod.

Ich hatte die “Aktualisierte und erweiterte Fassung!“, ein Heyne-Taschenbuch gedruckt 1994 (Erstauflage 1992). Da haben sie wohl auch Flüchtigkeits- und ernstere Fehler erweitert (sic):

condamned…, ein Spritzer Tobasco…, ihm bald einredet, er sein ein Mädchen, bald, er sein ein Mann…

Bei Goodreads bekommt das Buch abgesehen von mir hier genau eine Stimme (1 von 5 Sternen, Juli 2025), irgendeine fremdsprachige Ausgabe gibt es scheint’s nicht.

Die beiden Wilder-Biografien von Hellmuth Karasek (1992) und Charlotte Chandler (2002) im Vergleich:

Gemeinsamkeiten: beide Bücher lassen sich sehr leicht lesen. Beide Autoren protzen mit der vielen Zeit, die sie mit Wilder verbrachten; nur Chandler zeigt auch ein Foto von sich und Wilder. Beide lassen Wilder ausführlich zu Wort kommen und sind nicht an scharfer Kritik oder äußerster Sachlichkeit interessiert. Viele Anekdoten erscheinen fast eins zu eins in beiden Büchern, vor allem in der jeweils ersten Hälfte. Kein Autor fragt, warum Billy Wilders Filme ab etwa 1960 weniger interessant wurden, ob er je ein wichtiges gedrucktes Buch plante oder welche Bücher ihn beeinflussten (abgesehen von solchen, die er verfilmen wollte). Beide beschreiben ausführlich die Versteigerung von Wilders Kunstsammlung; Chandler erwähnt Karaseks Anwesenheit bei der Versteigerung.

Unterschiede: nur Chandler interviewt noch viele andere Hollywood-Promis über Billy Wilder. Chandlers Buch liest sich wie ein kohärenter Lebenslauf, Karasek bringt ein Anekdoten-Sammelsurium. Chandler erzählt etwas mehr über den Menschen Wilder, kommt ihm aber auch nicht nah. Chandler erzählt Filminhalte eingerückt ausführlich im Lauftext; Karasek erzählt Filminhalte im Anhang knapper und mit Besetzungsliste – die kommt bei Chandler erst im Anhang. Karasek erzählt mehr über Wilders Zeit in Berlin ab 1945; nur Chandler redet über die letzten erfolglosen Wilder-Filme und Wilders Reaktion darauf.

Assoziation:

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