Rezension Sachbuch: Sommerregen der Liebe, von Sigrid Damm (2015) – 6 Sterne

Das Buch beschreibt die mutmaßlich innige platonische Liebe zwischen dem alleinstehenden jungen Johann Wolfgang von Goethe und der etwas älteren Charlotte von Stein, verheiratet und mehrfache Mutter. Sigrid Damm (*1940) schrieb schon zuvor über Goethe und Zeitgenossen wie Schiller und Lenz mehrere Erfolgsbücher.

Damm liefert ihren markanten Stummelsatz-Stil, durchschossen mit kursivierten Mikrozitaten in kurios historischer Schreibung –  insgesamt leicht lesbar, sofern man den unkonventionellen Damm-Sound goutiert. Aber was hat la Damm eigentlich gegen das finite Verb?

Problematisch:

M.E. krankt dieses Buch über Goethe und Charlotte von Stein an drei grundsätzlichen Dingen, zwei davon außerhalb der Macht der Biografin:

  1. Historische Tatsachen: Zwischen Goethe und Frau von Stein blieb es wohl platonisch; es gab keine großen Dramen; kein Happy End; nicht mal einen happy 2. Akt; nur mal einen eher kalten Bruch; nicht ideal für ein Buch mit Unterhaltungsanspruch.
  2. Archivlage: Es gibt lt. Damm etwa 1700 erhaltene Goethesche Briefe und Notizen an von Stein – aber sämtliche von Steinsche Schreiben an Goethe existieren nicht mehr. Wir hören also sehr einseitig aus Goethes Perspektive.
  3. Gliederung des Buchs: Damm gliedert den Sommerregen der Liebe eigentümlich in drei strikt getrennte Teile: A) Etwa 52 Seiten allgemeine Einleitung und Abriss des gesamten Erwachsenenlebens beider Hauptfiguren über viele Jahrzehnte B) Etwa 115 Seiten Briefteil mit 231 der rund 1700 Schreiben Goethes an von Stein, darunter auch Gedichte, unkommentiert mit Ausnahme einiger Endnoten zu historischen Details C) Etwa 170 Seiten genauere Chronik der Goethe-von Steinschen Beziehung nur bis zum Ende von Goethes Italienreise – dieser dritte Teil erst liefert das, was man als Hauptbuch erwartet.

Trotz allem: Auch dieses Damm-Buch liefert leicht lesbar eine reizvolle Mischung aus historischen Fakten und allerliebst-possierlichem O-Ton vergangener Jahrhunderte, der sprachlich wie orthografisch fasziniert.

Eigentümliche Aufteilung:

Hat S. Damm nur vorhandene Aufsätze aneinandergeklebt? Die verwirrenden Zeitsprünge zwischen den Aufsätzen A und C deuten es scheinbar an.

Die Buchaufteilung wirkt, als ob Damm das Material nicht ganz im Griff hätte und deshalb zwischen ihren zwei Aufsätzen rund 115 Seiten Goethe-Briefe an von Stein praktisch unkommentiert abspult. Die beiden Turtelbrieftauben schrieben sich ja nicht nur, sie sahen sich auch laufend. Auf solche Begegnungen nehmen Goethes Notizen immer wieder Bezug – bleiben von Damm im Briefteil B indes gänzlich unkommentiert. Die Briefe zeigen also nur einen kleinen Ausschnitt der Goethe-von Steinschen Dynamik.

Wären Goethes “Zettelgen” und “Blätgen” in eine Erzählung eingebaut, könnte man sie auch leichter nach und nach lesen – auf 115 Seiten en bloc wirken Goethes Textnachrichten nicht perfekt verdaulich, zumal er ja teils nur kurze Zuwortmeldungen vor dem nächsten gemeinsamen Abendessen schickt, praktisch Whatsapp-Quickies ohne lustige Emojis.

Um wie viel flüssiger klänge das Narrativ, hätte Sigrid Damm Goethes Briefe und ihre biografische Erzählung ineinander gebettet, so wie sie das in ihren anderen Büchern (und hier im Buchteil C) geschickt tut. Stattdessen schiebt sie der Goetheschen Briefparade 170 Seiten erzählte Chronik der wichtigsten Jahre nach – nachdem man vor den Briefen schon 52 Seiten allgemeine Einleitung und eine Gesamtdarstellung las.

Auffallend und störend dabei: Im dritten Teil C wiederholt Damm immer wieder Goethe- und von Stein-Zeilen, die man schon aus den Teilen A und B kennt; Absicht der Autorin? Goethes Ausdruck, sein Herz stehe “unter Ihrer Regierung” erscheint sogar doppelt auf den Seiten 220 und 221 des Insel-TBs, und mir wird dort nicht klar, ob sich die Autorin der Wiederholung bewusst ist (bei anderen Zitaten  betont sie selbst deren Wiederholung).

Dazu kommt: Der Leser kennt den Ausgang der Geschichte – es wird kein Happy End geben. Der Hauptteil C läuft weiter und weiter; mal verstehen sich Goethe und von Stein besser, mal schlechter, das ist auch eine gewisse Entwicklung, aber es taugt keinesfalls als Roman. Arg viel passiert nicht, gleichwohl klingt die Auflistung der Tagesereignisse und der vielen kleinen Reisen der Akteure hier fast atemlos.

Grummelgrummel:

Die Seite 220 brachte mich noch ein weiteres Mal in Missstimmung. Schon vorher im Buch spielt JMR Lenz eine gewisse Rolle: auch er sonnt sich in Charlottes Aufmerksamkeit und darf sie gar 50 Tage lang auf ihr Landgut begleiten, während Goethe in Weimar schmollt. Später aber wird Lenz aus Weimar herausgeworfen, wohl unter Beteiligung Goethes – doch warum? Zu den Hintergründen verweist Damm lediglich auf ihr eigenes Lenz-Buch. Aber sie sollte den Vorgang auch hier im Goethe-von Stein-Buch mit ein oder zwei Absätzen schildern; diese Frage darf nicht offen bleiben, selbst wenn sie historisch nicht vollends geklärt ist.

Auf Seite 223 schreibt Damm das griechischische Wort σωφροσύνη nur auf Altgriechisch, liefert dazu ihre Übersetzung ins Deutsche, aber nicht die lateinische Umschrift des griechischen Ausdrucks (sophrosyne).

Die Insel-TB-Ausgabe bringt keine Abbildungen (weder Portraits noch Autografen) und keine Zeittafel.

Sturm und Drang der Liebe:

Erst im letzten, erzählenden Teil erscheinen auch Charlotte von Steins Gefühle, sofern sie aus ihren schicklichen Briefen an andere überhaupt erhellen. Ein spannendes Thema: Die solid verheiratete, pflichtbewusste mehrfache Mutter und Hofdame hatte kein Datingprofil mit dem Beziehungsstatus polyamor; sie wollte den jungen Goethe aber definitiv oft in ihrer Nähe sehen, Geschenke gingen hin und her. Goethes Schreiben an sie klingen mal nachbarschaftlich artig-possierlich, mal atemlos heiß und stürmisch drängend. Wie ließ sich das bewältigen? Damm nennt Vermutungen (glaubt u.a., wegen ihrer sieben Geburten könne die etwa 34jährige von Stein kein körperliches Interesse am jungen Goethe gehabt haben). Gewissheiten verweigert Damm.

Noch unklarer bleibt, wie Herr von Stein – zunehmend krank, aber mutmaßlich auch nicht polyamor – den Ansturm des Dichterfürsten und Hofgünstlings auf seine Ehegattin bewertete und in welchem gesellschaftlichen oder dienstlichen Verhältnis er zu Goethe stand. Goethe bat ihn ein paar Mal via Charlotte zu sich – was war das für eine Atmosphäre? Scheinbar pflegten sie immer höflichen Umgang, ganz Höflinge.

Und Frage aller Fragen, “Hat Goethe, oder hat er nicht, mit Frau von Stein”, so unsubtil investigierte Rudolf Augstein. Und hatte Goethe damals sonstige/überhaupt erotische Beziehungen? Solches interessiert Damm dezidiert weniger als Augstein: sie verweist auf Erkenntnisse anderer Studien, die jedoch nach ihrer strengen Auffassung “Goethes Intimsphäre nicht respektieren…. Zurückhaltung scheint mir angebracht. Wir müssen nicht wissen, welche Formen der Zärtlichkeit…” die Protagonisten fanden, “es ist und bleibt ganz allein ihre Sache, für immer ihr Geheimnis” (S. 272). Nach meiner Übersicht erwähnt sie auch nicht Peter Hacks’ erfolgreiches Theaterstück Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe, das Charlotte von Stein sehr eigenwillig fiktionalisiert.

Assoziationen:

  • Die endlose Flut der drängenden Liebesbriefe Goethes gen Charlotte erinnerte mich an die endlosen, ebenso gequälten Liebesbriefchen Graham Greenes an seine Catherine in der Greene-Biografie von Norman Sherry. In ihren Episteln an die einzig Wahre erwähnen beide Herren gleichwohl Vergnügungen mit anderen Frauen (stolzgereckt?). Boys will be boys.
  • Hier hat scheint’s in aller Harmonie die Frau einen Ehemann nebst platonischem Verehrer; das erinnerte mich vage an die Biografie eines Mannes mit Ehefrau nebst künstlerischer Verehrerin, laut Biografie ebenfalls harmonisch – Thelonious Monk mit Gattin plus Nica Rothschild.

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