Klaus Mann – Sohn Thomas und Katia Manns, Bruder von Erika, Monika und Golo Mann, Neffe Heinrich Manns – schreibt streckenweise vollmundig süffisant mit gutem Zug. Mitunter klingt er salopp wie in privater Runde, zugleich mild spöttisch und pikant mokant. Mann mag seine Lieblingsstadt Paris (wegen oder) “trotz all ihrer frivolen Blasiertheit, ihrer zynischen Korruption” – und zuweilen klingt auch sein Schreiben so, auf unterhaltsame Art (S. 217 der älteren 1984er-rororo-Ausgabe noch mit Frido-Mann-Nachwort und Werbung für “Pfandbrief und Kommunalobligationen”). Mann bescheinigt sich selbst ein “Penchant fürs Bizarre und Exzessive” (S. 229, sic).
Zu Hochform läuft Klaus Mann bei der Beschreibung kleiner Szenen auf: Beim Ringen mit der diebischen Hausmagd Affa (bereits in seiner ersten Biografie Kind seiner Zeit geschildert); wenn Nachbar Bruno Walter für die Kinder Wagner am Flügel intoniert; mit Gustav Gründgens auf der Probebühne; mit Thomas Mann am Mittagstisch; neben Hitler im Café; außerdem mit André Gide, Jean Cocteau, Marc Chagall, André Breton, H.L. Mencken, E.M. Forster, zweimal Emil Jannings, Greta Garbo, Alma Mahler-Werfel, Sinclair Lewis, Dorothy Thompson, Billy Wilder, Vicki Baum, Albert Einstein, den Roosevelts, Ernst Toller, H.G. Wells, Hermann Göring, Richard Strauß, Benesch u.v.a.m., jedoch nicht F. Scott Fitzgerald oder Graham Greene. Humorig, teils ehrfürchtig schildert Mann seine Promi-Bekanntschaften in Europa und den USA und muss sich selbst ermahnen, auch weniger bekannte Zeitgenossen zur Geltung zu bringen (eine ganze Nordafrika-Reise begleitet und finanziert aber nur der anonyme “ältere Freund”). Tatsächlich hätte Mann die Portraits weniger prominenter Freunde ausbauen sollen.
Die historische Wahrheit solcher Szenen ist nicht immer verbürgt, man sollte einfach die gelungene Erzählung genießen. Mann erzählt sein Leben oder das der Familie auch nicht systematisch – er pickt sich Szenen heraus, selbst wenn die Kapitelüberschriften Jahreszahlen nennen und damit Chronologie suggerieren. Darum ist Der Wendepunkt kein Biografie-Ersatz (den eine Autobiografie ohnehin nicht leistet). Ich würde erst eine übliche Biografie lesen und dann Manns Wendepunkt als amüsante Variation einzelner Aspekte obendrauf setzen (den Wendepunkt wohl am besten in der von Fredric Kroll kommentierten Ausgabe von 2006, auf die ich leider nicht rechtzeitig stieß).
Sich selbst nimmt Mann weit zurück, er bespricht Romane anderer Schriftsteller weit gründlicher als eigene Werke, stellt gelegentlich seine Fehlurteile heraus, etwa seine Unterschätzung Hitlerscher Macht. Beim “Erotischen… bedurfte ich kaum der Ermutigung”, lässt uns Mann noch wissen – und verschweigt doch alles Weitere. Auf S. 307 bekennt Mann, “von der Liebe” nicht viel zu erzählen, weil er sich womöglich “gerade diesen Gegenstand für künstlerische Gestaltung aufhebe und vorbehalte”. Da blickte er noch in die Zukunft. Mehr hören wir nur vom Gefährten Thomas Quinn Curtiss, den er nicht nur den Eltern, sondern auch dem Leser vorstellen möchte.
Freilich: Wo immer der rastlose Klaus Mann auftaucht – in Berlin, London, Paris, Marseille, New York, Amsterdam, Budapest -, er muss die Rotlichtszene genüsslich erwähnen (darin an Paul Theroux erinnernd). Beim ersten Paris-Besuch 1926 begegnet Mann nicht nur “Künstlern mit und ohne Talent, Originalen mit und ohne Originalität”, sondern erfreut und erwartbar auch “Hochstaplern, Spielern, grimmigen Lesbierinnen, geschminkten Lustknaben” (S. 167) etc. Bei Antike-Recherchen stößt er auf “Hetären” (S. 217), in Budapest auf ein veritables “sexuelles Angebot und Aufgebot” (S. 367). Nur aus München und Moskau berichtet Mann nach meiner Erinnerung nicht einschlägig.
Klaus Mann verwendet gern leicht außerzeitliche (“sich alterieren”, “Causerien”, “Gasterei”) oder regionale (“Bankert”, “spitzig”) Ausdrücke. Mann übersetzte und erweiterte hier seine eigene, zunächst englisch geschriebene Autobiografie The Turning Point (1942) ins Deutsche; vielleicht unterlaufen ihm deshalb fast (oder weil er sich teils auf eine Rohübersetzung seiner Schwester Monika Mann stützt) schon selbstgebastelt klingende Anglizismen wie “refüsierte” (S. 87 u. S. 179), “impressionierte” (S. 88), “kaptivierte” (S. 90, 96, 106, 156), “Penchant”(S. 185, 229, 2x auf Seite 231, S. 266, 333), “influenzierte” (ebf. S. 185), “der violenten Szene” (S. 259), “proponierte” (S. 271), “Kompatrioten” (S. 297, 357, 383), “der taciturne Adel” (S. 345), “introduzieren” (S. 379), “impressioniert” (S. 381), “einflussreiche Relationen” (S. 382), “der intransigente Führer” (S. 387), “den militärischen Support” (S. 388), “respondierten” (ebf. S. 388), “insuffizienter Ersatz” (S. 392), “kordiale Eindringlichkeit” (S. 394), “den Interpreten” (gemeint Dolmetscher, S. 491). Französisches bringt Mann bis zu drei Buchzeilen lang unübersetzt (S. 226).
Ebenso nachlässig wie bei solchen Ausdrücken wirkt Klaus Mann vor allem beim Buchaufbau in der zweiten Hälfte. Er lässt seine Gedanken schweifen, reminisziert hier- und dorthin, reiht Name an Name und Titel an Titel, erzählt nicht chronologisch, sondern fast stichwortartig. Sprechende Details fehlen.
Ganz die Kräfte verlassen Klaus Mann auf den letzten rund 115 Seiten – er bringt nur noch Tagebucheinträge, eigene Briefe und einen Artikel aus seiner Feder. Das wirkt sehr heterogen. Einsames Highlight in diesem Teil ist ein langer brieflicher Bericht über das Erreichen des kapitulierten Deutschlands 1945 als Reporter einer US-Armeezeitung samt Besuch im halb zerstörten Münchner Zuhause.
Altklug maniriert feuilletonistisch wirkt lediglich der Vorspann zu den Lübecker Vorfahren, und nur gelegentlich unterlaufen Klaus Mann banale Verallgemeinerungen wie (S. 41):
Man entdeckt keine Wahrheit, nach der man nicht erst gesucht hat. Das Forschen ist an sich schon beinah die Entdeckung. Man findet immer, wenn man innig genug sucht; auf jede dringlich gestellte Frage kommt schließlich die Antwort. Oft zu unserem Schmerz.
Oder (S. 365):
Optimisten irren. Aber die Pessimisten, irren die etwa nicht? Ich bin kaum geneigt, mir in so heikler Frage ein Urteil anzumaßen.
Bei solchen Sätzen werde ich ungeduldig! Wie auch bei rhetorischen Fragen, u.a. auf den Seiten 364f mit mindestens acht Fragezeichen. Auch einige politische und historische Exkurse überzeugen weniger.
Über die Sommerresidenz im Tölzerland sagt der weitgereiste Klaus Mann völlig zurecht (S. 45):
Was für ein Pfad! Was für eine Landschaft! Es gibt keine andere, die mir ebenso liebenswert erschiene.
Später über Oberbayern (S. 276):
Man ist ein Entwurzelter und hat sie doch geliebt, diese bayerische Landschaft. Bauernhäuser, Hügel, Wiesen, Herden, das Kruzifix am Weg, Brunnen und Apfelbaum…
Einen Kurort nahe Tölz nennt er dann aber ganz trocken und unerklärt “Bad Krankenheil” (S. 49).
Das Nachwort von Frido Mann klingt überraschend schwach, teils redet er über sich statt über Klaus Mann. Frido Mann beginnt mit dem Satz, der nicht weiter ausgeführt wird (S. 513):
Mein Onkel Klaus Mann hat seine Autobiographie “Der Wendepunkt” ziemlich genau im gleichen Alter geschrieben, in dem ich heute stehe.
Da weiß man doch gleich,
- in welchem Alter Klaus Mann die Autobiografie schreibt und
- wie alt Frido Mann bei Niederschrift war, was wir ja auch unbedingt wissen wollten.
Dann Sätze wie aus dem Wort zum Sonntag (S. 524):
Was ist es, was uns all dies heute zu sagen hat? Was können junge Menschen von heute und auch der, der jungen Menschen lehrend gegenübertritt, daraus lernen?
Dieses Nachwort lehrt uns jedenfalls, dass einzelne Mitglieder der Familie Mann doch tatsächlich *nicht* schreiben können.
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