Das Leben der Familie Mann beschreibt Tilmann Lahme zu seriell: Er rattert die Ereignisse chronologisch runter (die Jahreszahl steht über jeder rechten Seite), wechselt unentwegt die Hauptfigur, streut historische Details ein, vertieft nichts. Zudem zitiert er aus Briefen selten mehr als halbe Zeilen – längere, eingerückte Zitate könnten die Persönlichkeiten der Akteure jedoch weit deutlich machen. Sicher will Lahme die von ihm selbst mitherausgegebenen Briefe der Manns (2016) nicht kannibalisieren (dort gibt es auch schöne Aufsätze, die mir besser gefallen als das Buch Die Manns und die sich jederzeit auf die im Buch abgedruckten Briefe beziehen).
Zwei Beispiele für besonders störende Zitatarmut in Die Manns:
- Über ein Reisebuch von Klaus und Erika Mann urteilt Lahme mehrere Zeilen lang (“charmant, unterhaltsam und hemmungslos subjektiv”), zitiert jedoch nicht einen Nebensatz daraus.
- Die junge Erika Mann schreibt einen harschen Brief, der Empfänger “dürfte sich über den Ton wundern” – indes O-Ton gönnt Lahme dem Leser nicht.
Etwa ab dem siebten Buchviertel zitiert Lahme dann vermehrt Michael und Monika Mann – doch nur, um unkommentiert Egozentrik und Konfusion bloßzustellen, er haut sie regelrecht in die Pfanne (in Die Briefe der Manns kommen diese Akteure weit seltener zu Wort).
Gelegentlich zeigen Zitate sehr eigenwillige Rechtschreibfehler, die Lahme nicht durch ein “(sic)” dem Urheber zuschreibt. Dazu Lahme (S. 430): Die Zitate
…wurden orthographisch, wenn Fehlschreibungen und nicht Eigenheiten der Verfasser vorlagen, korrigiert und behutsam an die aktuelle Schreibweise angepasst.
Man muss also davon ausgehen, dass Lahme Schreibfehler der Manns wiedergibt, auch wenn seine Zitierpolitik nicht eindeutig ist.
Trotz O-Ton-Mangels erkennt man schon früh die amüsierte und tolerante Haltung Thomas Manns gegenüber seinen exaltierten älteren Kindern Klaus und Erika (der Vater: “Ich bin doch kein Stiftsfräulein”), die versöhnliche, zugleich resolute Linie von Katia Mann, Erika Manns frivole wie warmherzige und politische Persönlichkeit; Michael und Monika Mann, zwei jüngere, klingen unbekümmert und verantwortungslos.
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Bemerkenswert am Inhalt: Zu Thomas Manns Büchern gibt es kaum Inhaltsangaben, Interpretation oder Entstehungs- oder Rezeptionsgeschichte. Vielleicht etwas mehr sagt Lahme über die Bücher von Klaus, Golo und Erika Mann. Und: Lahme behandelt 80 Jahre von 1922 bis 2002 – er beginnt also nicht mit Thomas Manns Kindheit und endet nicht mit Thomas Manns Tod (wie so viele andere Biografien, die mit dem Tod der Hauptfigur hart enden). Lahme begleitet, wenn auch knapp, alle Mann-Kinder bis zum Tod, nicht aber die wenigen Enkel bis zum Jahr seiner Manuskriptabgabe. Und: Den Tod der Protagonisten schildert Lahme jeweils mit wenigen Zeilen, nicht nach Art anderer Biografen detailliert Stunde für Stunde.
Damit unterschiedet Die Manns deutlich vom Jahrhundert der Manns von Manfred Flügge – Flügge hebt viel stärker auf Thomas und Heinrich Mann ab und bevorzugt Literaturgeschichtliches gegenüber biografischem Kleinklein.
Das vielgepriesene Buch von Ex-FAZ-Redakteur und Golo-Mann-Biograf Tilmann Lahme (*1974) lässt sich leicht lesen, sprachlich ragt es gleichwohl trotz allen Kritikerlobs nicht heraus: Lahme verwendet zu oft Hilfsverben und Passiv. Hier eine kurze Passage mit dreimal “werden” (S. 311 Fischer Hardcover-Ausg.):
…die Dialoge, die Klaus Mann vorlegte, wurden umgeschrieben. Im September wird der Film auf der Biennale in Venedig uraufgeführt: Paisà von Roberto Rossellini, ein Meisterwerk des italienischen Neorealismus. Klaus Manns Name wird im Abspann nicht erwähnt.
Weitere Beispiele (S. 301, S. 350):
…ist das alles wenig überzeugend. Und doch ist es ein großer Auftritt…
…hat er ein Stipendium der Guggenheim Stiftung ((sic)) zugesprochen bekommen.
So etwas lässt sich frischer, abwechslungsreicher und mit weniger Hilfsverben auch aktiv formulieren.
Gelegentlich bleiben Bezüge uneindeutig – wen meint er mit “er”, wer ist Subjekt oder Objekt, warum beginnt der Satz mit zwei Objekten und bringt dann noch ein doppeltes “haben”? S. 259:
Seiner Reputation in der New Yorker Literaturszene hat das Zeitschriftenunternehmen, zu dem alle nur den Kopf geschüttelt haben, geschadet.
Die regelmäßigen Kürzestzitate muss Lahme mit indirekter Rede in den Lauftext stricken, das wirkt in Verbindung mit dem durchgehenden Präsens flach und hektisch. Manche Sätze klingen mild verdreht, andere enden nach zwei Wörtern. Auf “trotz” folgt Dativ. Ein anderer Fall (S. 328):
Lügen fällt ihr leicht, in diesem Fall aber schwerer als in anderen Fällen.
Auch wegen dieser Schwächen (immerhin ohne Tippfehler) hätte ich mir von Mann-Briefe-Mitherausgeber Lahme längere Brief- oder Romanzitate als Ausgleich gewünscht. Doch selbst die so kurzen und so unterschiedlichen Passagen vor allem von Thomas Mann, Katia Mann, ihrer Mutter Hedwig Pringsheim und Erika Mann sind Highlights. In seiner Golo-Mann-Biografie schreibt Lahme zwar insgesamt heterogener als hier, aber auch insgesamt attraktiver.
Unfaire Gegenbeispiele aus dem Biografie-Genre:
- Seine dreibändige Graham-Greene-Biografie textet Norman Sherry teilweise auffallend schlecht; aber er darf lange Romanauszüge zitieren und veredelt so die Biografie
- Hans Pleschinskis Thomas-Mann-Fiktion Königsallee unterhält zeitweise mit gelungenen Dialogen und trefflichen Charakterisierungen (ich weiß, es ist Fiktion)
- Jede Churchill-Biografie profitiert von Zitaten des (wie Mann literaturnobilitierten) Gegenstands
Tilman Lahme bei Wikipedia ᛫ Rezensionsberichte bei Perlentaucher
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