Buchkritik: Thomas Mann, Das Leben als Kunstwerk, von Hermann Kurzke (1999) – 7 Sterne – mit Links

Zusammenfassung:

Hermann Kurzke bewundert Thomas Manns Romane und will auch den Verfasser selbst mögen dürfen. Biografische Details reißt Kurzke nur flüchtig an, Hauptthemen sind vielmehr: Exegese der größeren Mann-Bücher v.a. ab Tod in Venedig, Spuren Mannscher Biografie in seinen Romanen, Manns verkannt frühe Hinwendung zur Demokratie ab 1918, Manns gedeckelte Homosexualität. Kurzke schreibt altmodisch, aber rund und gut lesbar.

Für Kenner:

Dies ist kein Grundkurs: Der Mainzer Professor em. Hermann Kurzke redet zu Conoisseuren, seinesgleichen; zu Lesern, die Thomas Manns Leben und Werk zumindest in Grundzügen kennen, samt Namen der Romanfiguren und ihrer Rollen in den wichtigeren Büchern. Auch Fremdsprachen sollte der Leser beherrschen, denn Ausdrücke wie “in inimicos” (S. 114 u. 118 i.m. Fischer-TB), “Succubus” (S. 519) und ganze englische Sätze bleiben unübersetzt; “Velleität” und “Tschandala” erklärt Kurzke erst deutlich nach erstem Erscheinen der Begriffe.

Mehrfach postuliert Kurzke, dass sich Manns Leben aus seiner Prosa ableiten lasse, dass Mann (1875 – 1955) lieber finde als erfinde, und führt dann zahlreiche Querverbindungen zwischen Manns Veröffentlichungen und dessen Privatleben an, unterfüttert mit ein paar Brief- und Tagebuchzitaten. Dabei klopft Kurzke die lübischen Buddenbrooks weit weniger auf Privates ab als den Zauberberg, die Joseph-Romane, Königliche Hoheit, Doktor Faustus, Fiorenza und die Betrachtungen eines Unpolitischen (anders als die Buddenbrooks bekommen Zauberberg, Faustus und die Joseph-Bücher auch eigene Hauptkapitel).

Gewagt wirkt Kurzkes Ableitung Biografischens aus den Romanen unter anderem im Abschnitt über den Freitod von Thomas Manns Schwester Carla; darüber gibt es laut Kurzke Hergangsberichte von Thomas, Viktor, Heinrich und Julia Mann, aber man kenne den Ablauf (S. 197)…

…am ausführlichsten aus der Übertragung der Ereignisse in den Roman Doktor Faustus… Da man die Geschichte kaum besser erzählen kann als dort, folgen wir stellenweise dem 35.Kapitel dieses Romans, ohne die Übernahmen im Einzelnen kenntlich zu machen. Was aus den anderen Quellen zu wissen nötig ist, fügen wir hinzu.

Gelungen literarisierte Geschichte interessiert Kurzke demnach mehr als verifizierte, Geist und Philosophie mehr als Lebensfakten. Polizeiberichte über das Geschehen sucht er offenbar erst gar nicht. Ein anderes Beispiel (S. 172):

Versucht man die Rückübersetzung ((aus einem Roman)) ins Gelebte… Wir folgern weiter ins Ungewisse…

Fiktion = Fakt? Mutig. Bis hin zu (S. 429):

Der keusche Joseph ist oft der keusche Thomas. Er ist aber auch dessen Gegenüber ((…))

Fiktionsforensik:

Immerhin bringt die fiktionsforensische Detektivarbeit den Kurzke-Leser in den Genuss zahlreicher langer Zitate Mannscher Belletristik – samt vieler aufreizender, gelegentlich zu komischer Roman-Eigennamen wie Clawdia Chauchat, Imma Spoelmann, Mont-kaw, Ines Institoris, Abel Cornelius, Chaim Breisacher, Madame Houpflé, Sesemi Weichbrodt, Monsignore Hinterpförtner, Wendell Kretzschmar, Sixtus Kridwiß, Saul Fitelberg, Nepomuk Schneidewein, Meta Nackedey, Mut-em-enet, Helene Ölhafen, Heinz Klöpfgeißel, Xaver Kleinsgütl (Josepha Kleinsgütl, genannt Affa, existierte wirklich, S. 289).

Aber auch Hermann Kurzke selbst (*1943) schreibt ein rundes, solides, kraftvolles Deutsch ohne professorale oder feuilletonistische Manierismen, nie selbstverliebt oder weitschweifig, gelegentlich sogar deftig (so schildert Kurze “ein literarisches Niedermachen, bis sich kein Halm mehr regt”, S. 126; “hageldicht prasselte” ein anderer Verriss nieder mit einem “Riesenaufgebot an Knüppeln”, S. 226f). Er klingt mild altmodisch wie sein Sujet, verzichtet nach alter Väter und Thomasmannscher Sitte mitunter auf Hilfsverb nach Partizip Perfekt und variiert das Dativ-e (S. 260: “…in gewissem Grade… bei diesem Punkt”). Sehr seltene sprachliche Schwächen fallen da (neben der mangelnden Distanz) umso deutlicher auf (z.B. zweimal “obgleich” innerhalb von drei Zeilen auf S. 287 oder “…waren, waren…” auf Seite 528).

Gelegentlich erzählt Kurzke von seinen 70er-Jahre-Gesprächen mit Katia Mann (“ihre großen, dunklen, immer noch ausdrucksvollen Augen”, S. 156) und Michael Mann (“schwadronierte schallend über Weltpolitik”, S. 320). Um ironische oder nicht-ironische Distanz zum Familienvorstand müht sich Kurzke erst gar nicht, er bewundert Manns Werke und möchte den Menschen Mann liebhaben dürfen (S. 336):

Es folgt ein peinliches Kapitel. Wir verstehen das nicht, wir billigen es nicht. Es ist nur schwer vorstellbar, aber der soignierte Bürger Thomas Mann hat sich verstohlen zu okkultistischen Séancen geschlichen.

Oder (S. 157):

((…)) widerwillig geben wir das zu. Immer lebte er geborgen im Wohlstand. Ein paar Jahre Armut hätten wir ihm schon gegönnt, nur so zum Kennenlernen. Hätten ja auch literarisch etwas eingebracht, wären sicher höchst verwertbar gewesen.

Manns gedeckeltes Inneres weckt bei Kurzke “Rührung und Mitgefühl” (S. 344). Gelegentlich nennt er ihn “Tom” oder “Tommy”.

Aufbau des Buchs:

Dass Kurzke geistige Strömungen höher bewertet als biografische Fakten, beweist auch der Aufbau seines Buchs: 16 der 20 Hauptkapitel beginnen mit einer kurzen “Chronik”, ein bis zwei Seiten mit den wichtigsten biografischen Daten des Zeitabschnitts, geschrieben ausnahmsweise in steifem passivischem Deutsch, gesetzt zudem in einer anderen Schrift als der Rest des Buchs und schon dadurch abgetrennt von dem, was Kurzke wirklich interessiert – das erscheint dann unter Überschriften und Zwischenüberschriften wie “Freiheit”, “Talent und Erwähltheit”, “Erkenntnis ist die tiefste Qual der Welt”, “Ur-Kram”, “Literatur und Leben”, “Antisemitismus?”, “Zola”, “Erotik und Ironie”, “Meinungen”, “Mystik”, “Kirche”, “Fragwürdigstes” (okkulte Neigungen, nicht nur im gleichnamigen Zauberberg-Kapitel) usw. Am Joseph-Zyklus interessiert Kurzke nicht die historische Basis, sondern welche Zeitgenossen Mann wie hineintextete.

Kurzke zeichnet die Spuren Nietzsches und Schopenhauers in Manns Werk nach; doch wie der komplette Schulversager und Nichtakademiker T.M. sich alles aneignete – kein Wort davon. (Wenn ich es richtig sehe, erscheint der bekannte Mann-Biograf Peter de Mendelssohn bei Kurzke weder in der Liste wichtiger Bücher noch im Personenregister, auch Klaus Harpprechts 2250-Seiten-Biografie von 1995 wird nicht erwähnt).

Wie Thomas Mann sich dem Alltag stellte, dazu liefert Kurzke ebenfalls nicht chronologische, sondern ein paar zusammenfassende Unterkapitel, so etwa “Dienstboten”, “Ein Trost: Hunde” oder “Arme kleine Katia”. Kaum länger (ein paar Seiten) sind die sehr gerafften Unterkapitel über jedes der sechs Kinder – sie erscheinen ebenso wie in Flügges Das Jahrhundert der Manns als Pflichtübung. Ein kurzes Kapitel heißt zwar “Arbeitstag und Alkohol”, aber wie Thomas Mann einen Roman konzipiert, ausführt und redigiert, schreibt Kurzke nicht systematisch auf, auch nicht in den Hauptkapiteln zu Zauberberg, Josephsromanen und Doktor Faustus. Zur Rezeption gibt es praktisch nichts. Wir erfahren auch nicht, ob Thomas Mann schon in frühen Jahren von eigenem oder (schwieger-)elterlichem Geld lebte (Klaus Harpprecht hat viel mehr dazu) und wie seine Frau die zunehmend offenen homoerotischen Interessen handhabte.

Reges Interesse:

Manns Homoerotik spürt Kurzke besonders aufwändig nach (einmal druckt er über fast zehn Buchseiten ohne Quellenangabe offenbar die hochnotpeinliche Tagebuchschwärmerei des 75jährigen T.M. für den Kellner Westermeier, samt Westermeier-Foto; dem folgt das Unterkapitel “Mann als Madame”; dieses Thema erscheint bei Harpprecht viel knapper). Fast eifernd müht sich Kurzke auch um den Nachweis, dass Mann schon in den frühen 1920er Jahren zum Demokraten wurde.

Meine Fischer-TB-Ausgabe von 2001 hat etwa 585 Seiten Haupttext einschließlich der 40 ordentlich reproduzierten SW-Abbildungen auf Textdruckpapier. Die Anmerkungen enthalten allein etwa 47 Seiten Endnoten – praktisch nur reine Quellenangaben und keine inhaltlichen Vertiefungen, darum muss man dort nicht unbedingt hinblättern. Dazu kommen etwa 20 weitere Seiten Bibliografie und Register; die allerletzte Seite 672 zeigt Thomas Mann in seinem letzten Lebensjahr.

Ich sagte, man muss nicht zu den Endnoten blättern. Doch immer wieder zitiert Kurzke Brief- oder Tagebuchsätze ohne Jahresangabe, teils bleibt sogar der Verfasser unklar. Manchmal sind solche Informationen aber wichtig, und dann muss man doch hinten nachschlagen. Dies fällt besonders ins Gewicht, weil Kurzke wie gesagt vieles nicht chronologisch abhandelt, so dass die Zitate aus ganz unterschiedlichen Jahrzehnten und Situationen stammen könnten.

Die vielen langen Zitate setzt Kurzke nicht durch Einrücken ab, sondern durch Kursivieren (einmal wie erwähnt fast zehn Seiten fast durchgehend). Das jedoch senkt die Lesbarkeit. Und innerhalb des Zitats betonte Wörter (in Handschriften wohl Unterstrichenes) muss er dann nicht-kursiviert drucken – es fällt weniger auf und wirkt seltsam.

Thomas Mann – die Biografien von Klaus Harpprecht und Hermann Kurzke im Vergleich:

  Klaus Harpprecht Hermann Kurzke
  Thomas Mann – Eine Biographie Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk – Eine Biographie
  1995 1999
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Seiten gesamt* 2252 672
Seiten Haupttext 2054 585
Seiten Anhang 184 68
Gramm 1266g (642+624g) 494g
Bilder 40 verstreut in Haupttext auf Textdruckpapier
Schwerpunkte Lebenspraktisches, umgebende Personen; Zeitgeschichte und Politik v.a. ab den späten 1930er Jahren u. Manns Rolle darin; dt. Emigration; “keine Werk-Biografie” Exegese v.a. Betrachtungen e. Unpolitischen, Zauberberg, Faustus; biograf. Andeutungen in lit. Werk; demokrat. Gesinnung ab ca. 1919; Homoerotik
Stil sehr leicht lesbar, gelegentlich zu salopp, häufig aufdringliche wertende Adjektive und Einschübe, Allgemeinplätze und überflüssige rhetorische Fragen altväterlich gut lesbar; gelegentlich zu unkritisch nicht-distanziert und wie persönlich involviert
Haltung zu Thomas Mann Bewundert einige Romane, verurteilt frühe politische Haltung z.B. in “Betrachtungen” deutlich, insgesamt kritische Distanz, Biografie wohl kein Herzensanliegen Bewundert viele Werke Manns, scheint persönliche Sympathie für den Menschen zu hegen, keine politischen Urteile, weniger kritische Distanz, Biografie scheint Herzensanliegen zu sein

* Seiten gesamt = letzte Seitenzahl inkl. Inhaltsverzeichnis, Anhang; bei Kurzke gezählte Seiten teils mit Fotos gefüllt; bei Harpprecht Zählung über beide Bände hinweg

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