Romankritik: Nobody’s Fool, von Richard Russo (1993, Sully bzw. North Bath 1 von 3) – 8/10

Richard Russo liefert einen Szenenreigen in Kneipen, Wohnungen, Autos und auf Baustellen. Er verknüpft verschiedene Akteure exzellent. Der sonst sehr plausible, nüchterne Roman wirkt zweieinhalb mal absurd: Gewalt gegen einen Polizisten, Polizistengewalt gegen einen Kaffeeautomaten und eine kabarettartige Gerichtsverhandlung, ein Justizstadl.

Der Roman spielt 1984 und ist ein Plädoyer für die Zeit ohne Handys und ohne Internet: unentwegt suchen die Figuren einander in Kneipen. Tablettenbeschaffung und Rechtsberatung passieren im Auto und in der Kneipe. Auch die gedruckte Lokalzeitung spielt eine Rolle. All diese handlungtreibenden und oft herzerwärmenden Mikro-Interaktionen samt Zufällen nebenbei wären heute mit Kurznachrichten erledigt und langweilig.

Raues Frotzeln:

Die Dialoge sind fantastisch: oft hinterfotzig bösartig, gelegentlich schlicht freundlich. Man traut den Greisen und Dorftrotteln die geist- und anspielungsreichen Wortwechsel nicht zu – aber Russo textet klasse.

Über die rund 550 eng gedruckten Seiten der englischen Ausgabe wirkt Russos gut geölte Dialogmaschine indes repetitiv – die liebevoll-rauen Frotzeleien der Hauptfigur mit gleichaltrigen oder jüngeren Männern ebenso wie das etwas aufdringlich Menschelnde zwischen Hauptfigur Sully (harte Schale weicher Kern) und dem schüchternen Enkel Will (nah am Wasser gebaut) oder den rund 80-jährigen Damen Miss Beryl und Hattie, die sich an Sullys Rauhbeincharme wärmen. Die vollständige deutsche Übersetzung Ein grundzufriedener Mann hier beim Dumont Verlag hat sogar 780 Seiten.

Die Rückblenden auf Sullys sadistischen Vater nerven zudem und drücken unnötig auf die Tränendrüse wie sonst nur Romane von Frauen über gepeinigte Frauen (Lily King, Jen Beagin).

Längere beschreibende Passagen formuliert Richard Russo oft so unaufdringlich lässig, dass man sich kaum langweilt. Nur die Rückblende auf die gemeinsame Jugend von Sully, Clive Jr und dessen Eltern wirkt zu lang und herbeigeholt. Auch dass die Hauptfigur in einer Umschulung Philosophieunterricht durchleiden muss samt großen Gedanken über Freiheit und Co quer durchs Buch, wirkt wie ein aufdringliches Stilmittel.

Dass auf einen offenbar verheerenden Schusswaffengebrauch in der Upper Main Street sogleich ein sehr langer Cliffhanger folgt, der Leser ewig nichts Genaues erfährt (und dann nur häppchenweise), unterenthusiasmierte mich ebenfalls – ein billiger Trick. Die mannstolle Jungakademikerin Didi wirkt unplausibel ebenso wie Toby Roebucks Loyalitätswechsel spät im Buch.

Mackermänner:

Dies ist ein Buch von, über und für einfach gestrickte Männer, und niemand ist sympathisch (deswegen verzichte ich auf die hochgelobte Verfilmung mit Paul Newman). In seiner Männerperspektive erinnert der Roman Nobody’s Fool an John Updikes Rabbit-Reihe – und auch beim Fokus auf Autos, Straßen, Arbeitswelt, Ostküstenprovinz und beim Reihen-Charakter.

Nicht unberücksichtigt lässt Richard Russo allerlei Körperausscheidungen inkl. Nasenpopel, dazu schlaffe Brüste, dito Pimmel, halbtransparente Blusen und nebengeräuschhaltige Fachgespräche am Urinal:

They’d peed side by side into the same urinals on other occasions. 

Auch Philosophisches hat bei Richard Russo eine Note:

It was one thing to realise you were shoveling shit against the tide, another to give up the enterprise before you got soiled. Especially when, in other respects, you intended to keep shoveling different shit against other tides.

Bin ich froh, dass ich das nicht auf Deutsch gelesen habe.

Liebe, Sex, Glamour oder Eleganz produziert Russo kaum außer in verkorksten Anspielungen, ein Unterschied zu Updike. Ein Collegeprofessor wird in Russos strikt nasenhaarrasiererfreiem Roman zum Bauarbeiter und Fastfoodbrater – bei Updike kaum denkbar. Richard Ford schrieb eine ebenfalls vag vergleichbare Serie über Kleinstadt-USA in New Jersey mit der Hauptfigur Frank Bascombe – aber wie John Updikes Figuren siedeln auch Fords Protagonisten sozial höher Richard Russos Malocher und Säufer.

Ihre männlich-herbe Männlichkeit demonstrieren Richard Russos Männer oft leicht ungrammatisch – zum Beispiel mit ”don’t it?” Man denkt an den Juristen in Tom Wolfes Bonfire of the Vanities, der eine Frau ebenfalls mit kalkuliert ungrammatischer Rede anbaggert. Auch Autor Russo verschleift sein Erzähl-Englisch stets umgangssprachlich (“he’d… they’d”). Falsches Englisch bei Protagonistinnen bringt Richard Russo dagegen kaum; die wichtige Nebenfigur Miss Beryl, pensionierte Lehrerin, geriert sich sogar als Bildungsbürgerin.

Der Buchtitel „Nobody’s fool” erscheint sehr früh in diesem Satz:

Throughout his life a case study underachiever, Sully – people still remarked – was nobody’s fool…

Später kommentiert seine On-Off-Loverin Ruth:

„I always said you were nobody’s fool. But I wouldn’t have guessed you were smarter than God if you hadn’t told me.“

Weitere Assoziation:

  • Zum Ende hin verlassen bei Pannen Gebisse und Beinprothesen vorübergehend ihre menschlichen Besitzer; solche Kaspereien erinnern an T.C.Boyle und John Irving
  • Profis vergleichen Richard Russo mit Anne Tyler und Norah Ephron – beide schätze ich auch, assoziiere ich aber hier nicht
  • Dieser Roman ist so realistisch, dass ich gern einen Stadtplan gehabt hätte
  Qualität Menge
Handlung  6 (von 10)
Konflikt 8 5
Dialog 9 5
Humor 8 5
Liebe 8 3
Erzählstimme 8
Spannung 4
Detail 7
Realismus 8
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