Kritik Roman: Der Sohn Cardinaud, von Georges Simenon (1942) – 7/10

Simenon

Plötzlich verschwindet Marthe, Mutter von zwei Kindern, und nimmt auch noch wichtige 3000 Francs mit. Ihr Mann, ein biederer Versicherungsagent, Sohn Cardinaud, macht sich auf die Suche. Bald vernimmt er, dass die scheinbar so distinguierte Marthe mit schmierigen Hafenlümmeln verkehrte. Trotzdem will er sie unbedingt in den Schoß der Familie zurückholen. Bei seiner Suche im Hafenkneipenmilieu stößt Sohn Cardinaud auf fiese, kriminelle Figuren.

Stil:

Dies ist ein Simenon ohne Komissar Maigret. Georges Simenon schreibt wie in allen Nicht-Maigrets (seinen “romans durs”) nah am Leben, liefert interessante, realistische Hintergründe zur männlichen Hauptfigur, erfindet weder Glamourtypen noch Pappakteure.

Simenon (1903 – 1989) skizziert den Alltag plastisch, aber mit knappen, einfachen Worten. Kleine Rückblenden in die Jugend klingen federleicht beiläufig. Er verzichtet auch auf Drama, Tragödie und unglaubwürdige Zufälle. Wir lernen die Familie des Versicherungsmenschen kennen, die Soziologie der Kleinstadt, und selten schrieb Simenon so malerisch (ironisch?) wie hier (wenn auch von der Übersetzerin zerhackt, S. 33):

Jemand – die Korsetthändlerin – hatte, das hörte er genau, als er vorüberging, gesagt:

“Der junge Cardinaud zieht so schön den Hut…”

Allerdings: Der Familienvater hat bald glaubwürdige Indizien, dass seine Frau als Hafenschlampe agierte; warum will er sie unbedingt wieder im Schoß der Familie sehen, und warum glaubt er, dass er sie dazu bewegen kann? Simenon skizziert hier dumpfe Milieus und Typen – die gefielen ihm womöglich, sie wirken in ihrer Abfolge aber willkürlich.

Simenon lässt den verlassenen Sohn Cardinaud scheinbar so lange schmierige Dumpfbacken treffen, bis die Standard-Simenonromanlänge von rund 180 Seiten (im Deutschen) erreicht ist. Gegen Ende wird’s fast eine Detektivgeschichte, und ich konnte nicht allen Wendungen folgen (Anwenderfehler). Außerdem sagt Simenon erst gegen Ende etwas über Marthe, das Sohn Cardinaud schon immer wusste und in Betracht zog; das sollte der Leser früher erfahren haben.

Zur Übersetzung:

Ich hatte das Diogenes-Taschenbuch mit Linde Birks Übersetzung und dem blutigen Kopf auf dem Titelbild, der nicht zur Geschichte passt, aber aus einer der mindestens drei Cardinaud-Verfilmungen stammt (ich habe ihn überklebt). Überwiegend trifft die Übersetzerin den trockenen, betont reduzierten Simenon-Ton, der nicht vom Geschehen ablenken soll.

Doch öfter auch wunderten und störten mich deutsche Formulierungen, und die wohl geplante Simenon-Neuausgabe von Kampa sowie Hoffman und Campe leistet hoffentlich Besserers – allerdings werde ich den Roman dann nicht noch einmal lesen. (Simenons Nicht-Maigret-Bücher wirken generell so klar und übersichtlich, dass sie mich weniger zu wiederholter Lektüre verlocken als andere Werke, bei denen ein zweites Lesen mehr neue Entdeckungen verspricht.)

Unter anderem bremsten die folgenden Formulierungen aus dem Roman meinen Lesefluss: “Eiskellers” (statt “Eiscafé” oder “Eisdiele”, S. 8), “Pitchpinetür” (S. 11), “zum Kaltessen” (S. 17), “Wenn er würde alles erklären müssen, würde er…” (S. 75), “…so einfach, wie wenn…” (S. 112) und “…während Fischfrauen… Kunden anriefen, um frischen Fisch zu verkaufen” (S. 125, nicht das Telefon ist gemeint).

Manche Dinge verwunderten mich auch nur, klangen unlogisch, aber vielleicht verstehe ich auch etwas nicht, z.B. hier (S. 27):

Was machte sie da oben? Als er herunterging, saß sie…

(Muss es nicht heißen, was machte sie da unten? Ich habe nicht mit dem Original verglichen, aber auch in anderen Büchern schon eindeutige, leicht vermeidbare Übersetzungsfehler gefunden.)

Freie Assoziationen:

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