Vergleich: Die Shakespeare-Nacherzählungen von Michael Köhlmeier (Piper-Verlag), Walter E. Richartz (Diogenes-Verlag) und Urs Widmer (Diogenes-Verlag Teil 2):
Alle Autoren erzählen William Shakespeares Dramen vollmundig eigenwillig, aber gut lesbar. Jedes Drama bringen sie auf rund 15 bis 22 Seiten zu Ende. Kein Autor bringt Interpretierendes, Historisches, Englisches und zumeist keine Zitate aus dt. Übersetzungen.
- Michael Köhlmeier schreibt besonders eigenwillig und stakkato, bleibt dabei aber gut lesbar. Scheinbar hält er sich strenger ans Original, verzichtet aber wohl auf geflügelte Worte der jeweiligen Stücke. Köhlmeier schreibt eher chronologisch, die Handlung lässt sich gut verfolgen – für Shakespeare-Neulinge günstig. Die Geschichten ähneln sich in Ton und Struktur, jedoch erzählt Köhlmeier nur 11 Geschichten. (8 Sterne)
- Walter E. Richartz flicht im Diogenes-Shakespeare-Band I scheinbar mehr geflügelte Shakespeare-Zitate ein (auf Deutsch), bringt mehr Details und Personal, erfindet aber auch erklärtermaßen mehr hinzu, so dass die Plot-Quelle nie ganz klar ist. Er erzählt die 19 Geschichten teils in Rückblenden oder aus Ich-Perspektive, und damit unübersichtlicher als Köhlmeier. Wer die Stücke nicht schon kennt, tut sich mit der Orientierung schwer. Ton und Struktur ändern sich von Geschichte zu Geschichte. (4 Sterne)
- Urs Widmer erzählt im Diogenes-Shakespeare Band II deutlich übersichtlicher als Walter E. Richartz, dabei immer noch eigenwillig und gern vulgär. Widmer erzählt nur weniger bekannte Dramen, v.a. die Königsdramen u.a. aus England und der Antike. Ton und Struktur ähneln sich von Geschichte zu Geschichte. (5 Sterne)
Ihr eigenwilliger Erzählton unterscheidet die Autoren von den sachlichen Online-Nacherzählungen etwa bei Wikipedia, Get Abstract oder Dieter Wunderlich. Und nur so macht das Lesen Spaß; denn die nüchternen Nacherzählungen ermüden schnell, selbst wenn sie momentweise übersichtlicher wirken als Köhlmeier oder Richartz.
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Sehr witzig:
Walter E. Richartz (1927 – 1980) erzählt in Shakespeares Geschichten Band I 19 bekanntere Shakespeare-Dramen nach, zwölf Komödien und sieben Tragödien, darunter nicht Julius Cäsar. Im Vorwort betont Richartz, wie frei er nacherzähle:
Vielleicht würde ich hier und da einen anderen Anfang oder einen neuen Schluß dazudichten, vielleicht würde ich aus einer Nebenperson eine Hauptperson machen. Auf jeden Fall würde ich ein großes Stück von mir dazutun, also ein Stück Heute, weil es von Heutigen gelesen wird.
Bei MacBeth erfindet Richartz zum Beispiel einen William Shakespeare hinzu, der seinem Zeitgenossen König Jakob I. den MacBeth-Plot erzählt. Dabei entstehen unglückliche Sätze wie:
Nun sag’s schon, sagte Lennox, sagte Shakespeare.
Macduff sagte: Albernes Zeug, sagte Shakespeare, und…
Das ist (absichtlich?) überkonstruiert oder gewollt witzig, auch wenn es Jakob I. Gelegenheit gibt, eine lange Ahnenreihe von MacBeth bis zur eigenen Regentschaft herzusagen. Auch Sätze wie “Ein Kuckuck rief Kuckuck.” klingen angestrengt originell.
Wie es ihm gefällt:
Weitere Beispiele, in denen Richartz die nicht unkomplexen, bevölkerungsreichen Shakespeare-Plots durch Eigenerfindungen weiter verkompliziert:
- Wie es Euch gefällt beginnt als Rückblende im Wald; die bereits als Mann verkleidete Rosalinde wird als Mann eingeführt, ihr Geheimnis erst am Ende gelüftet, das nimmt Handlung und Dialogen viel Reiz
- Othello läuft auch als Rückblende ab, Ich-erzählt von Othello im Moment des Selbstmords, das Messer steckt schon “zwei Finger” tief im Fleisch, aber noch nicht im Herzen.
- Romeo und Julias Tragödie erzählt Romeos Gifthändler seinem Beichtvater – absolute Nebenfiguren, die damit überflüssiges Gewicht erhalten.
- Der Sommernachtstraum erscheint als rückblickender Brief der Hauptfigur Hermia an eine “Susannah” (Shakespeares Tochter?). Hermia: “Mein Damenfriseur heißt Trotzki…” Der sommernächtliche Wald liegt im Amazonasgebiet bei “Manaos”, erreichbar via Flugplatz, mit “Opernhaus” natürlich, Figuren wie “Achilles Mitsubishi” und “Emerson Fittipaldi” laufen herum. Hermia entschuldigt sich zuletzt bei Susannah, “daß mein Bericht so unordentlich vor und zurückspringt” (sic). Das “Si” in der brasilianischen Kirche müsste ein “Sim” sein, die “Rumba” wohl eher “Samba” oder “Bossa Nova”, aber was soll’s.
Auch Hamlet wird zum Ich-Erzähler und witzelt flach:
Immer Monologe, damals machte ich einen Kult daraus.
Unklarheiten:
Zwar bringt Richartz einige geflügelte Worte aus dem jeweiligen Shakespeare-Stück (“es ist die Lerche”), inkorporiert aber auch Sprüche aus anderen Shakespeare-Dramen. So denkt Shakespeare als Figur in MacBeth:
Ein Königreich für ein Bier.
Das leitet Richartz – gemeinsam mit anderen Spaßvögeln vieler Jahrhunderte – aus Shakespeares Richard III. ab. Man weiß also nie genau, woran man bei Richartz ist:
- ist es Shakespeare oder Richartz, und
- wenn Shakespeare, dann Shakespeare aus dem aktuell erzählten Stück?
Bei Ende gut, alles gut erscheinen Familiennamen aus Julia und Romeo. Richartz ist eher etwas für Shakespeare-Kenner mit Rätsel-Faible.
Richartz schreibt gern etwas vulgär, etwa über den schwarzen Othello oder in Hamlets Ich-Rede über seine Mutter:
geschminkt wie eine Nutte… geil wie eine Nutte… machte die Beine breit
Zudem wirken die Stücke unübersichtlich, wenn man die Handlung nicht schon kennt. Relativ klar, ohne Sperenzchen, läuft bei Richartz das Wintermärchen ab, auch Ende gut, alles gut klingt überraschend nachvollziehbar.
Persönliche Erklärung des Rezideppen:
Ich kannte Shakespeares Plots zuvor kaum und kann nicht beurteilen, wie präzise der Autor nacherzählt. Ich las nur etwa drei Viertel der Geschichte (alle, die auch Köhlmeier erzählt, denn ohne vorherige Köhlmeier-Lektüre verstehe ich die Richartz-Geschichten nicht; und ein paar weitere).
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Assoziation:
- Shakespeare-Zitate Englisch-Deutsch recht übersichtlich, leider ohne Übersetzer-Angabe, bei Quotez
- Die taz über Walter E. Richartz, und der Spiegel
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